Foto: Susanne Bosch

Ein performativer Akt auf dem Weg in die solidarische Knirschzone

am 11. August 2020 | in Allgemein, Wagnisse des Neuen | von | mit 0 Kommentaren

25.07.2020: Was hat Radfahren mit Kunst und der Pandemie zu tun? Was hat Bewegung durch physischen Raum mit Transformation zu tun?

Mai 2020: Ich werde für das sieben-wöchige Praxis Stipendium der Villa Massimo in Rom eingeladen. Aufgrund des, pandemie-bedingten, in Italien anhaltenden Lockdowns sieht es zunächst so aus, als würde es das erste Praxis Stipendium ohne physische Anwesenheit und somit das erste in Berlin-Wedding lokalisierte Stipendium. Die Einladung entstand aus meinem anhaltenden künstlerischen Interesse an Transformation und Wandel. Es entstand aus einem Dialog, den ich mit Julia Draganovic, der Direktorin der Villa Massimo, und indirekt mit den Stipendiant_innen, deren Familien/Angehörige und Mitarbeitenden geführt habe, die den Lockdown gemeinsam vor Ort in Rom erlebten.

Es entstand die Idee, Orte, Erzählungen und Situationen in Rom zu recherchieren, wo sich in und durch die pandemie-bedingten Situationen solidarische Akte des täglichen Miteinanders, oft spontan und selbst organisiert, ergeben haben. Interessant scheint das Potential, dass sich in diesen Situationen zeigt. Ich sehe darin Möglichkeiten für größere systemische Veränderungen, welche auf neue Formen des Miteinanders hinweisen. Es interessieren mich dabei sowohl die Potentiale als auch die Hindernisse, die sich in diesen Situationen zeigen.

Als die Kontaktsperre relativ kurzfristig Anfang Juni 2020 aufgehoben wird, kommt (m)eine Anwesenheit in Frage. Ich möchte mich so bald als möglich physisch präsent in Rom umschauen. Aber mir scheint diese Bewegung von Berlin nach Rom in alter Weise, nämlich in meinem Fall mit einem schnellen Zug, aus mehreren Gründen überhaupt nicht adäquat:

  1. Reisefreiheit mag zwischenstaatlich vereinbart worden sein, dennoch scheint mir diese schnelle Wieder-Mobilität in Krisenregionen als überhaupt nicht sinnhaft, will ich die Gesundheit und das Leben anderer und meiner Selbst weiterhin respektieren.
  2. Seit Monaten habe ich nur Berlin realphysisch erlebt; den Rest rein medial. Was ist in dem Raum zwischen den zwei Städten im Norden Berlin, und dem Süden Rom, eigentlich passiert, was hat sich verändert, was lässt sich wahrnehmen?
  3. Ich habe meine Immobilität in den Monaten seit März als ungemein erweiternd und befreiend empfunden und frage mich, ob ich dieses neue Erleben so einfach wieder aufgeben mag?
  4. Welches aktive Anders-Handeln aus diesen Erfahrungen scheint mir für die Zukunft sinnhalft? In all diesen Routineunterbrechungen hat mich sehr die Fähigkeit zu kooperativem Denken und Handeln, das schnelle Lernen, das Mitgefühl und das Erleben von globalem Verbunden-sein berührt.
  5. Meine Routine-Unterbrechungs-Erfahrungen haben mir gezeigt, dass ich neue Dinge ausprobieren und erleben durfte, die mir sehr viel wert waren/sind und von denen ich einige gerne als neuen Alltag etablieren möchte.
  6. So wurde eine andere Form von Mobilität mit einem Vorschlag einer Freundin manifest:

Wenn es um mehr Präsenz und Aufmerksamkeit für Raum, Mensch und mich im Raum mit Menschen geht, welches sich nur durch langsameres Bewegen herstellen lässt, dann kamen zwei Formen der Fortbewegung in Frage: Laufen oder Radfahren.

Aus Zeitgründen entschied ich mich fürs Radfahren. Am 04.07. sollte ich da sein, um unter anderem noch die Jahresstipendiat_innen kurz vor ihrer Abfahrt kennen zu lernen sowie vor der Sommerpause ein paar Wochen Zeit vor Ort zu haben. Am 19.06. konnte ich mich beruflich ab mittags frei machen und radelte in den kommenden 15 Tagen jeden Tag eine Etappe gen Rom.

Foto: Susanne Bosch

Es ist viel passiert für mich auf dieser Reise, die meine eigenen Routinen noch einmal unterbrechen sollte, diesmal durch ein vor mir selbst gewähltes Format mit Anfang und Ende, aber eines, dass mir in seiner Art unbekannt war.

Definitiv ist keines der Dinge passiert, die an mich herangetragen wurden oder die ich selbst in mir als Ängste trug: Keine Biene flog mir in den Mund, ich traf keine bösen Männer im Wald, keine Hitze knallte mich vom Fahrrad, die schlechten Straßen Italiens verursachten weder Unfall noch Unmut, ich hatte keine Panne und musste stundenlang schieben, ich bekam keinen wunden Po; es gab vielleicht Berge, die mich zum Kollabieren hätten bringen können, aber die müssen auf den wenigen Zugstrecken gelegen haben, die ich zwischendrin eingelegt habe.

Auch andere Dinge passierten nicht, wie ich sie mir vorgestellt hatte: Ich wollte die Zeit auf dem Rad für stundenlange Bildung in Form von Podcasts nutzen und mich so ins Thema und Land einstimmen. Ich hatte so gut wie überhaupt keinen Impuls etwas anderes wahrzunehmen als die Geräusche um mich, immer begleitet vom Wind und von Vögeln und dann mit wechselnden anderen Tönen wie Autos, Flüsse, Grillenzirpen. Ferner war mich auch nicht nach anderem als dem unmittelbar um mich Existierenden: Die Landschaft, der Weg, das Rad und ich in einer stetigen Bewegung auf/mit diesem. Sehr spät las ich den Text über Radfahren als Meditation und ja, ohne es geahnt zu haben, war ich stundenlang unaufgeregt, unspektakulär und ohne Aufwand einfach nur präsent.

Foto: Susanne Bosch

Ich war sechs Mal auf der Reise mit Menschen gezielt verabredet; manche kannte ich, viele wurden mir als Gesprächsgegenüber vermittelt. Diese Begegnungen waren intensiv, da ich immer Gästin in den Kontexten der anderen war. Ich bemerkte, dass das, was ich von anderen gerne wissen möchte, was mich interessiert, nicht schnell erfass- oder erzählbar ist und nicht bei einer ersten Begegnung oder in Gruppen. Trotzdem haben sich auf vielen Ebenen Eindrücke eingestellt darüber, was und wie mir berichtet wurde über das pandemie-situationsbedingte Leben und Tun. Es war eine wundervolle Form der Begegnung für eine Durchreisende wie mich.

Durchreisen als performativer Akt war per se erkenntnisreich. Meine funktionale Kleidung identifizierte mich klar leuchtend als eine solche und machte mich nicht nur sichtbar, sondern gleichzeitig als Individuum unsichtbar. Ab Italien wurde ich von anderen Radreisenden als Dazugehörige erkannt und gegrüßt ­– eine ganze neue Zugehörigkeit bei gleichzeitigem Verlust der Individualität.

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Viel habe ich über meine Strategien der Bewältigbarkeit nachgedacht: So war die gesamte Strecke in Tagesetappen unterteilt; diese wiederum in Teiletappen von Pause zu Pause. In manchen zweifelnden Tagesverfassungen verhandelte ich innerlich Zugbahnhöfe als mögliche Lösung….

Bewältigbar machte die Strecke für mich eine Stimme im Ohr, die zu einer App gehörte und mir den Weg wies, eine Powerbank, die dafür sorgte, dass das Handy fast immer funktionierte, eine EC Karte mit Zugang zu Geld und damit Essen und Schlafen, funktionale Kleidung, die mich gut schützte sowie ein unglaublich gutes Fahrrad, ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Wasser war essentiell beteiligt am Empfinden, dass diese Herausforderung machbar ist. Bewältigbar machte das Ganze sicherlich auch eine Grundfitness sowie Lebenserfahrung, die mir zumindest die Illusion gibt, neue Situationen einschätzen und gut bewältigen zu können. Auch habe ich mehrmals tiefste Dankbarkeit empfunden für all die Brücken, Tunnel, Unterführungen, für all die Wege, die für mich Durchreisenden das Durchqueren des Raumes so fließend, rollend und ohne abrupte Unterbrechung möglich machte.

Covid 19 wurde gen Süden immer alltagspräsenter, schon in Bayern wurde mir klar, dass es sich hier um eine gesundheitliche Katastrophe mit Ereignis handelte, während es in Berlin ja weitgehend ereignislos bis zu diesem Zeitpunkt geblieben war. Eine Bäckerei in einem fränkischen Dorf verweigerte, meine Wasserflasche entgegen zu nehmen und aufzufüllen. In Norditalien führe mich die Strecke mitunter durch Fußgängereinkaufszonen in Dörfern, wo alle maskiert einkaufen gingen. Meine erste Unterkunft in Italien hatte erst seit Mitte Juni wieder geöffnet; in Villa Lagarina erzählte mir die Gastgeberin, dass ich die erste Radlerin dieses Jahr sei und sonst die Saison jetzt bereits beendet sei. In Peschiera di Garda schlug das Hotelteam zum Jahrestag des heiligen Peter & Paul ein rohes Eiweiß in eine Glaskaraffe mit Wasser und sagte, die über Nacht entstehende Form würde ihnen alles über ihr Glück in den kommenden 12 Monaten sagen. Am Morgen fand ich, sah die Form aus wie ein auf dem Rücken liegendes Schaf, dass alle Viere in die Höhe streckte.

Ich erfuhr von den Einheimischen viel über Erschöpfung und Resignation. „Es gibt eine Katastrophe und wir füllen ununterbrochen neue Formulare aus“, sagte Luigi aus Modena über die Ausgangssperren-Regulierungen. „Unsere Bildungsministerin überlässt es den Schulleitungen, wie es ab September weitergeht. Das lässt uns alle völlig im Ungewissen“, sagte Sandra, die Lehrerin. Miriam stellte fest: „Den Tourismus konnten sie innerhalb von sieben Tagen organisieren, die Schule bekommen sie nicht koordiniert“.

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Wie auch in Deutschland ist zu beobachten, dass die auf dem Land Lebenden viel weniger von den Restriktionen der Pandemie betroffen scheinen, da der Alltag von weniger menschlicher Dichte und mehr physischem Platz bestimmt ist. In den urbanen Momenten meiner Reise, sei es Regensburg, Florenz oder Livorno, war eine andere Realität erlebbar mit anwesendem Militär, mit Leere wo Räume sonst von Menschen bevölkert sind sowie einer trägen, ungeschäftigen Ruhe, die mir als Individuum ja immens gut gefällt, von der ich aber weiß, dass sie nicht der Natur von neo-liberalen touristischen Kontexten entspricht. In Italien ist es ruhig, auch hier in Rom, wo ich seit dem 4. Juli bin, aber es liegt eine spürbare Spannung in der Luft, nicht nur Sommerhitze bedingt. Das Radfahren durch den Raum, das langsamere Bewegen, das Aufbringen der eigenen Energie zum Fortkommen sowie mein Ausgesetzsein in einen unbekannten Prozess und dessen Bewältigung haben mich als performativer Akt mental eingestimmt weg von meinem ganz individuellen Betrachten hin einem erweiterten Wahrnehmen dieser globalen Transitphase.

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