Frei Erfundenes und Erlogenes. Oder: Die Abwandlungen der Realität gesucht!

am 27. Februar 2015 | in faktor kunst 2013, Public Residence: Die Chance | von | mit 0 Kommentaren

Der Autor, Regisseur und Schauspieler Rolf Dennemann lebt bereits seit 15 Jahren am Borsigplatz in Dortmund. Nun ist er hier an seinem Wohnort als Künstler bei „Public Residence: Die Chance“ tätig. Teresa Grünhage hat mit Rolf Dennemann darüber gesprochen, wie es ist, an seinem eigenen Wohnort einmal die Perspektive zu wechseln, und welche Ideen im Spiel mit der Wahrnehmung eines Ortes entstehen können. Das Interview wurde am 7.2.2015 durchgeführt.

Rolf, du hast bei Public Residence eine ganz besondere Rolle: Im Gegensatz zu den anderen Künstlern musstest du nicht den Wohnort wechseln. Du residierst an deinem tatsächlichen Wohnort. Welche Erfahrungen hast du bisher damit gemacht?
Ich kenne hier fast niemanden und habe auch kaum Kontakte zu der Bevölkerung vor Ort. Es ist für mich persönlich sehr spannend, nun über dieses Projekt Kontakt zu den Menschen in direkter Nachbarschaft zu bekommen. Die Projekte, die ich normalerweise mache, spielen nicht hier, zwar in Dortmund, aber nicht innerhalb eines Stadtteils, in dem kaum potenzielles Publikum existiert. Es ist also so, als würde plötzlich jemand von außen sagen: „Schau doch mal dort hin!“ Mein Blick verschiebt sich und ich bin gespannt, wie sich meine Wahrnehmung ändern wird und welche Kontakte entstehen werden. Ich hatte mich damals aus Neugier beworben. Da aber oft angenommen wird, dass der Außenblick der Beste ist, wurden vermutlich erst auswärtige Künstler ausgewählt. Aber es ist schon richtig: Man hat den richtigen Blick, wenn man nicht immer dort ist, wo man lebt und auch mal zwischendurch den Ort verlässt. Es ist wie in der Liebe. Ohne Sehnsucht geht es auf die Dauer nicht. Man muss auch mal verschwinden. Als dann Ende letzten Jahres Künstler ausgestiegen sind, habe ich die Chance bekommen teilzunehmen. Nun bin ich erst seit Januar dabei, was sehr schade ist. Mein Gefühl sagt mir, dass man für ein solches Projekt mindestens zwei Jahre braucht.

Mit welcher Idee bist du in das Projekt gestartet?
Meine Ausgangsfrage, die ich hatte, war: Warum weiß ich gar nichts von dem Projekt „Public Residence“? Ich wohne hier, aber habe bisher keine Informationen über das Projekt erhalten. Als Anwohner müsste ich doch geradezu mit Informationen überschwemmt werden! Also dachte ich, dass man die Aktionen doch mal zusammenfassen und übersichtlich machen muss. Mein erster Gedanke war also, der Koordinierung des Ganzen auf die Sprünge zu helfen, damit es zum Beispiel ein Programm gibt. Der zweite Gedanke war: Ich möchte nichts mit Theater oder Tanz machen, denn die Bereiche sind schon abgedeckt durch die Künstler Dorothea Eitel und Olek Witt. Also dachte ich, ich versuche mal etwas zu machen, das es noch nicht gibt. Wie wäre es, wenn ich mich als Gesprächspartner für die Anwohner zur Verfügung stelle? Ich richte „Sprechstunden“ ein mit dem Ziel, von den Leuten Geschichten zu hören. Beobachtungen, keine Lebensgeschichten, die von diesen Straßen hier ausgehen. Kleine Aufhänger, aus denen ich dann möglicherweise wieder Texte entwickeln kann. Möglicherweise werden dann aus diesen Geschichten, die alle hier spielen sollen, Szenen entstehen, aus denen man ein Drehbuch entwickeln kann, für einen Film, der vielleicht nie gedreht wird.

Es sind bereits die ersten „Sprechstunden“ angelaufen. Was ist dort genau passiert? Wie wurden diese Treffen von den Anwohnern angenommen?
Das erste öffentliche Treffen war ein Performanceabend von mir, bei dem ich meine Idee erläutert habe und Fragen beantworten konnte. Als ich gesehen habe, wer so alles kommt, dachte ich mir: Wow, die wohnen hier?! Interessant! Interessant war auch, wie unterschiedlich die Menschen waren. Und beim darauf folgenden Treffen waren viele von ihnen wieder da! Es ging sehr viel um die Vergangenheit. Da ich wirklich keine Ahnung habe, was früher hier so war und passiert ist, freut es mich, dass ich eine authentische und unvoreingenommene Zuhörerperspektive habe und wirklich neugierig bin, was erzählt wird. Ich frage nach und es werden Geschichten von früher erzählt, die auch ins Heute gehen.

Sprechstunde mit Rolf Dennemann, Public Residence

Foto: Manuela Borg

Wie gehst du mit den Geschichten um? Setzt ihr sie zu einer gemeinsamen Erzählung zusammen?
Wir haben gemeinsam eine Hauptfigur gesucht, die diese Geschichten erzählt. Das ist der erste Kunstgriff. Später können wir diese Hauptfigur diese Geschichten erleben lassen. Wir haben zum Beispiel erst einmal gemeinsam überlegt, welches Geschlecht unser Charakter haben soll. Es ging zu wie bei einer Versteigerung. Wir haben uns auf eine Frau geeinigt. Dann war natürlich die Frage, wie alt sie denn ungefähr ist. Wir haben uns für 28 Jahre entscheiden. Wo wohnt Sie? Wir haben uns auf die Straße, das Haus und den Stock geeinigt. Aber wie sieht die Wohnung aus? Und was ist sie von Beruf? Einer meinte: „Sie war einmal Grafikdesignerin und ist jetzt auf Hartz IV.“ Dann konnten wir weiter über die Wohnung sprechen. Ist sie schön dekoriert? Liegen die Schuhe draußen oder drinnen?Wie sieht das Badezimmer aus? Was sieht man als erstes, wenn man hinein kommt? Eine Creme. Was für eine Creme? Wofür verwendet sie sie? So kann man eine Figur entwickeln, bei der es denkbar wäre, dass sie hier wohnt. Das macht mir großen Spaß und man könnte noch mehr ins Detail gehen. Für einen Roman braucht man diese Hintergründe. Man muss die Person kennen. Auch Schauspieler brauchen oft diese Infos, um zu sehen, wie die Figur überhaupt tickt, und um sich so besser in die Rolle hineinzuversetzen.

Interessant war es auch, über die Perspektive des Erzählers zu reden. Meint der Autor es wirklich so, wenn er das schreibt, oder vermittelt er die Meinung einer fiktiven Person?

Beim zweiten Treffen haben wir nur Geschichten erzählt. Ich habe jemanden gefragt, in welcher Straße er wohnt und die Antwort war eine 45-minütige Suada vom Hölzchen aufs Stöckchen. Alle haben sich beteiligt und erzählt.

Werden weitere Treffen folgen?
Wie schon beim letzten Treffen ist es nun der nächste Schritt, sich im kleinen Kreis zu treffen, um Notizen zu machen, was im großen Kreis oft schwer ist. Mit einzelnen Leuten zu sprechen, ist oft effektiver. Deshalb werde ich in Zukunft regelmäßige Sprechstunden anbieten. Ich habe mich entschlossen, nun jeden Sonntag in dem Ladenlokal in der Oesterholzstraße 103 zu residieren. Die Menschen müssen allerdings merken, dass ich nicht jedes Mal eine Vorstellung machen werde, sondern dass es jetzt um sie geht, um ihre Beobachtungen und Erlebnisse hier vor Ort. Bei mir könnten die Menschen auch lügen, dass die Fetzen fliegen. Umso besser für die Geschichten, aber ich glaube, das tun sie nicht. Noch nicht. Oft sind die tatsächlichen Gegebenheiten auch so ungewöhnlich, dass jeder denken würde, das ist doch nicht wahr! Gerade das, was stimmt, wird oft nicht geglaubt.

Ich suche noch Leute, die bei jedem Treffen mit dabei sind und Skripte Ideen aufschreiben.

Und was wird mit den gesammelten Beobachtungen und gemeinsam entwickelten Geschichten geschehen? Wird es ein Buch geben?
Ziel ist es tatsächlich, die gesammelten Beobachtungen und Geschichten zu verkünstlichen, sei es in Form von kleinen Szenen, Kurzgeschichten oder, was auch immer entstehen wird. Ganz genau weiß ich es auch noch nicht. Das wird sich entwickeln. Letztlich möchte ich den Menschen zeigen, wie denn eigentlich ein Film überhaupt zustande kommen kann. Ich weiß nicht, ob sich alle dafür interessieren. Ohne die kleinen Geschichten entstehen keine Hollywoodfilme. Der Autor hat vielleicht mal vor Jahren eine Geschichte aufgeschnappt und jetzt ist es plötzlich an der Zeit, diese Geschichte umzusetzen und weiterzuspinnen und schon entsteht ein Film. Ein Film entsteht aus vielen kleinen Geschichten. Man denkt, man beobachtet etwas, das vielleicht gar nicht wichtig scheint, aber genau das kann für eine Geschichte wichtig sein. Ich kann auch etwas erfinden, aber das, was die Leute mir erzählen, hat meist mehr Hand und Fuß. Es gibt aber noch einen zweiten Schritt meiner Idee, der unmittelbar an den ersten Teil anknüpft. Im Mai wird hier in dieser Straße ein Tourismuszentrum entstehen!

Das klingt spannend! Was genau hast du vor?
Ich werde Führungen anbieten. Meine Idee macht sich fest an berühmten Menschen, die hier gewirkt haben. Das ist wie in Wien, wo an jedem dritten Haus steht, wer dort was gemacht hat und die Menschen kommen und fotografieren das. Ich werde hier an etwa 15 Häusern Schilder montieren, auf denen der Name einer scheinbar wichtigen Person steht. Zum Beispiel könnte sie Hildegard Subolowitsch heißen. Darunter stehen dann ihre Lebensdaten und ihr Beruf, zum Beispiel Schneiderin oder Schriftstellerin. Zu dieser Frau wird in der Führung eine Geschichte erzählt. Es sind erfundene Personen, aber es kann sein, dass da auch welche dabei sind, die tatsächlich existieren. Dahinter steckt die Idee zu zeigen, dass alle gleichermaßen wichtig sind, eben auf ihre spezielle Art und Weise. Auf dem roten Teppich werden auch oft alle fotografiert, ohne dass der Fotograf weiß, wer diese Person genau ist, aber darum geht es auch nicht. Wer auf dem roten Teppich steht, der ist berühmt. So kann eben jeder berühmt sei. Das Äußere macht’s. Und hier eben das Schild. Das hat etwas Offizielles. Da glaubt der Bürger auch alles. Steht ja dort. Und hier werden Geschichten erfunden. Sie sind real oder nah dran. Aber alle haben einen realistischen Hintergrund. Angenommen es ist die eben genannte Schriftstellerin. Diese Frau kennt hier niemand, aber in Korea wurden ihre Bücher in einer Millionen-Auflage verlegt. Sie ist eine Berühmtheit. Deutsche Gedichte in Koreanisch. Und jetzt lebt die Enkelin von ihr noch hier. Und die hat noch ein Originalmanuskript von ihrer Oma in Deutsch. Wir werden ein Gedicht in der Führung vorlesen und dann kommt plötzlich die Enkelin aus dem Haus heraus und die Person, die die Führung macht, flüstert den Leuten zu, dass das die Enkelin sei: „ Aber bitte nicht fotografieren!“ Vielleicht lebt hier wirklich eine Berühmtheit. Ein Spiel mit dem Begriff „VIP“ (very important person).

Und deine Schilder werden dann mit den „Chancen“, der Kunstwährung am Borsigplatz, finanziert? Wie gehst du mit den „Chancen“ um und was sind diese „Chancen“ für dich?
Genau, diese Schilderaktion wird Geld kosten, und dafür brauche ich die Chancen. Außerdem kann ich das auch nicht alles alleine machen. Ich würde gern einen Schauspieler einladen, der mir hilft.

Aber eigentlich sind die Chancen für mich eine rätselhafte Erscheinung in der heutigen Welt. Wenn man ein Jahr Zeit hat, kann man Monate lang daran arbeiten, dass Menschen die Chancen bekommen und sie dir wiedergeben. Aber ich fühle mich dabei unwohl, fast wie ein Bettler, die Menschen zu fragen, ob sie mir Chancen für meine Kunstaktionen geben möchten. Bis jetzt ist es so, dass Leute kommen und mir ihre Chancen zustecken. Das begrüße ich natürlich, denn dann kann ich sie verwenden. Ich habe nichts gegen den Versuch, die Chancen als Währung hier zu etablieren. Wenn hier zum Beispiel herauskommt, dass ein Kreislauf für diesen Ort entsteht, bei dem die Menschen die Chancen bekommen, wenn sie sich beteiligen und diese dann wieder für neue Aktionen einsetzen, dann hat etwas funktioniert. Aber bis sich so etwas herumspricht, braucht es Zeit und gute Werbung. Ich habe es ja selber jetzt gerade erst einmal verstanden. Es ist eine Schwelle und für die Menschen zunächst einmal schwer zu verstehen.

Durch die Chancen können sich die Menschen an deiner Arbeit beteiligen und sie unterstützen. Bei deinen Aktionen bietet sich aber eine Vielfalt an Möglichkeiten der Beteiligung. Wie lässt du die Leute an deiner Arbeit teilhaben? Wie lässt du sie an der Kunst partizipieren?
Schon seit Jahren arbeite ich nicht unbedingt mit dem Begriff Partizipation, sondern mit dem Prinzip der Partizipation. Mein Lieblingsbeispiel ist eine Inszenierung auf einem Friedhof, die ich 2008 umgesetzt habe. Ein Ort an dem wir einen logistisch ungeheuer komplizierten Parcours eingerichtet haben. Die Leute wurden in Gruppen durch einen Performanceparcours geführt und kamen dabei an vielen kleinen Performances vorbei, die sie normalerweise kaum sehen würden wollen. Zehn-Minuten-Stücke, die keine Bühne zeigen würde. Die schrägsten Dinge. Die Menschen wurden dabei aktiv Teil einer Gruppe, die sich von Ort zu Ort bewegt. Dabei nahmen sie eine Landschaft, die sie schon sehr lange als Friedhof kennen, völlig anders wahr. Der Blick veränderte sich. So haben sie den Friedhof vorher noch nie gesehen. Der Blick öffnet sich vielleicht auch in der Zukunft für neue Dinge. Die Aufmerksamkeit ist nicht nur auf die Kunst gerichtet, sondern auf die ganze Umgebung. Ein super Zusammenspiel. Wenn mir die Menschen hier etwas erzählen, dann sind sie natürlich nicht sofort auch Künstler, aber ich kann sie in eine Fantasiewelt mitnehmen, in der sich der Blick für das Ästhetische öffnen kann.

Was möchtest du den Menschen am Borsigplatz mit auf den Weg geben?
Wenn diese Sonntage angenommen werden und sich dieser Ort als ein Ort etabliert, an dem sich die Menschen treffen können und etwas stattfindet, dann ist das Ziel erreicht. Das würde aber heißen, dass das Ladenlokal weiter erhalten bleiben muss. Wenn das wieder geschlossen wird, war das alles umsonst. Ich glaube, es braucht einen Ort, an dem mittelfristig kleine Gespräche öffentlich geführt werden können oder auch Lesungen. Regelmäßig an bestimmten Tagen muss dort immer irgendetwas Interessantes sein. Dann wäre das für mich ein erfolgreiches Projekt.

Ich bin eigentlich zuständig für flüchtige Sachen, man inszeniert und spielt etwas, erzählt und bewegt sich, und dann ist es wieder weg. Die Leute nehmen davon Stoff für ihre Fantasie mit, aber etwas wie ein Ort des Austausches für diese Fantasie müsste bleiben, um sie weiter zu entfalten und Begegnungen zu schaffen. Der tolle Nebeneffekt meiner bisherigen Treffen ist, dass sich die Leute dort bis auf wenige gar nicht kannten und sich so kennengelernt haben. Das ist der Schneeballeffekt, den ich gut finde. Es ist ein Treffpunkt geschaffen und vielleicht treffen sie sich später wieder. Aber ohne mich und das Treffen hätten sie sich gar nicht kennengelernt.

Hast du einen Zukunftstraum für den Borsigplatz?
Es gibt hier, wenn man nicht tagtäglich hin- und herläuft, nichts. Lebensqualität ist für mich, zum Beispiel ein Café, in maximal 200 Meter Entfernung zu haben. Hier muss ich mich dafür ins Auto setzen und fahre seit Jahren immer wieder erneut durch die Straßen auf der Suche nach einem netten Lokal, das aber nicht in diesem Viertel liegt. Aber so einfach ist es auch nicht. Es geht nicht um ein Café oder ein Schwimmbad, sondern um viel größere Dinge. Um Strukturen. Es ist unglaublich viel in dem Revier falsch gemacht worden. Und dazu kommt, dass man den Leuten hier nichts zutraut. Aber in ihnen steckt viel Potenzial! Ich habe schon oft in anderen Städten den Satz von Politikern gehört: „Für die (Dortmunder) ist das nichts, was ihr da macht!“ Das ist eine Unverschämtheit. Diese Menschen, die so etwas sagen, sind meist mit schuld daran, dass es hier so ist, wie es ist. Es stimmt, Kunst hier vor Ort zum Teil des Alltags zu machen, ist schwierig. Aber viele wissen vielleicht auch noch nicht, dass es sie interessiert. Und wenn es sie interessiert, das war ja auch schon bei anderen Aktionen zu beobachten, dann wird das von den Menschen in gewisser Weise sehr ernst genommen. Für alle Kunstformen gibt es Publikum. Das Publikum weiß aber oft noch nicht, dass es Publikum ist.

Rolf, herzlichen Dank für das Gespräch!

Foto oben: Guido Meincke, Borsig11

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

« »