„Kunst ist Dialog“

am 03. Februar 2015 | in faktor kunst 2013, Public Residence: Die Chance | von | mit 0 Kommentaren

Seit November 2014 lebt der Regisseur und Theaterpädagoge, Performancekünstler und Schauspieler Olek Witt nun als Künstler des Projektes „Public Residence: Die Chance“ in Dortmund am Borsigplatz. Teresa Grünhage hat Olek Witt nach seinen ersten sechs Wochen vor Ort getroffen und mit ihm über das Leben am Borsigplatz, über seine Ideen und Projekte gesprochen. Das Interview fand am 12.12.2014 statt.


Teresa Grünhage: Olek, du hast dich für „Public Residence“ mit einem Konzept für deine künstlerische Arbeit vor Ort beworben. Welche Idee hattest du?

Olek Witt: Meine Grundidee war, zunächst mit den älteren Menschen, die hier am Borsigplatz leben, Gespräche zu führen und ihre Geschichten zu sammeln; Geschichten von Menschen, die hier zum Teil seit Jahrzehnten leben, etwas erfahren haben und Veränderungen gesehen haben. Diese Geschichten wollte ich dann mit Kindern und Jugendlichen mit den Mitteln des Theaters zur Sprache bringen. Wenn diejenigen, die bereits viel erlebt haben, denen, die noch nicht so viel erlebt haben, aber auf darstellerische Weise etwas zeigen können, Geschichten weitergeben, dann entsteht ein sinnvoller Dialog zwischen den Generationen. Ich war hier vor Ort schon im Gespräch mit älteren Menschen und sie sind sehr offen und bereit, etwas zu erzählen, aber es braucht natürlich Zeit, diese Geschichten auch alle zu sammeln.

Nun bist du später in das Projekt eingestiegen und lebst bereits seit zwei Monaten am Borsigplatz. Welche Pläne hast du nun?

Eigentlich ganz ähnliche Pläne. Aber nun musste ich mich erst einmal darauf konzentrieren, Kontakte zu knüpfen, die es vorher kaum gabt, zum Beispiel zu den Schulen. Ein Beispiel: Ich habe seit November Kontakt zu einer Grundschule, an der ich gern Kinder für ein Theaterprojekt gewinnen möchte. Im Dezember konnte erst ein Planungstreffen stattfinden, Mitte Januar kann ich erst richtig anfangen, mit den Kindern zu arbeiten, und im Mai wird meine Zeit hier vor Ort leider schon wieder vorbei sein. Nun muss ich sehen, was für mich in der kurzen Zeit, in der ich hier bin, realistisch ist. Ich arbeite mit Jugendlichen und Kindern, aber auch mit Erwachsenen. Wir werden sehen, was entstehen wird. Ich habe meine ursprünglichen Ideen nicht aufgegeben, aber an die Gegebenheiten vor Ort angepasst. In meiner Arbeit geht es mir um Wachstumspotenziale. Und Wachstum braucht selbstverständlich Zeit.

Von dir sind bereits mehrere Projekte angelaufen. Zum Beispiel hast du das Projekt „Wünschewerkstatt“ ins Leben gerufen. Welche Erfahrungen hast du bereits gemacht?

Bei der „Wünschewerkstatt“ habe ich passend zur Vorweihnachtszeit gemeinsam mit Studenten Bewohner und Passanten nach ihren Wünschen befragt. Natürlich wurden viele materielle Wünsche geäußert, aber auch nicht-materielle Dinge wie Gesundheit. Viele haben sich gewünscht, dass die Drogendealer nicht mehr hier sind. Ein Thema, bei dem ein Künstler am wenigsten ausrichten kann. Das sind gewisse Machtstrukturen, bei denen die Politik oder Polizei eher eingreifen sollte als ein Künstler. Diese Wünsche haben wir aufgeschrieben und letzten Freitag die Anwohnern dazu eingeladen, die Wünsche aufzumalen, damit wir sie auf dem Borsigplatz veröffentlichen können. Leider sind nur sehr wenige gekommen. Das lag meiner Ansicht nach vor allem auch daran, dass das Informationsnetzwerk am Borsigplatz noch ausbaufähig ist. Aber das werden wir in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich weiter verbessern.

Und was wird nun mit den Wünschen geschehen?

Wir haben die Wünsche als Stoff für ein Theaterstück mit Kindern gesammelt. Wenn ein Stück erarbeitet wird, stellt sich immer die Frage: Was hat dieses Stück mit meinem Umfeld zu tun? Als Künstler stelle ich zuerst immer Fragen. Hier frage ich nach den Wünschen der Menschen und komme ins Gespräch. Und das funktioniert hier sehr gut!

Jeder versucht, eine ehrliche Antwort zu geben, und so kommt man ins Gespräch. Vielleicht hat man ja gemeinsame Wünsche oder andere Gemeinsamkeiten. Das, was hier am Borsigplatz fehlt, ist eine gemeinsame Identität.

Auf eine mögliche gemeinsame Identität bezog sich ja dein Projekt „DU BIST BORSIG“.

Ja, ich habe hier am Anfang „DU BIST BORSIG“ initiiert. Meine Frage war, wie man es schaffen kann, eine gemeinsame Identität herzustellen. Zum Beispiel, dass Menschen hier sagen: „ Ich bin Borsigianer.“ und stolz darauf sind, obwohl der Ort ein negatives Image hat und viele Menschen froh sind, wenn sie bald auch wieder umziehen. Es wäre schön, wenn das Gefühl entstünde: „Wir sind hier eine große Familie“. Ich habe schon überlegt, T-Shirts drucken zu lassen, mit denen man sich sichtbar zum Borsigplatz bekennt, wie man sich eben mit einem Schal zu Borussia Dortmund bekennt.

Mit dem Projekt „Public Residence“ wurde die Kunstwährung „Chancen“ am Borsigplatz eingeführt. Wie gehst du mit den „Chancen“ um und was sind diese „Chancen“ für dich?

Für meine Arbeit sind die „Chancen“ bisher nicht besonders relevant. Meine Arbeit läuft ja anders als die eines Bildenden Künstlers. Ich brauche nicht sehr viel Material, das ich kaufen müsste. Natürlich, ein wenig habe ich schon gekauft und habe auch schon „Chancen“ von Bewohnern bekommen, die ich nun für neues Material verwenden kann.

Fakt ist, dass die „Chancen“ bisher noch nicht optimal bei der Bevölkerung angekommen sind. Es gab ja schon viele Versuche, an anderen Orten Europas eine Lokal-Währung einzuführen, und das hat bisher nur partiell funktioniert. Meist waren das Gegenden, an denen ein bestimmtes Selbstbewusstsein und eine lokale Identität für ein solches Parallelsystem vorhanden waren und nicht zuletzt auch ein Vertrauen da war. Der Wert der „Chancen“ ist hier noch nicht im Bewusstsein der Menschen angekommen. Ich würde ja auch keinen Euro akzeptieren, wenn ich wüsste, der Euro hat keinen Wert. Es muss also ein Wert hinter den „Chancen“ stehen. Aber welcher ist das? Welchen Wert hat die Kunst? Ist die Kunst für die Menschen hier ein Wert? Das ist eine gute Frage. Ich sehe nicht, dass hier jemand sagt: „Wir brauchen jetzt ein Kunstwerk!“ Ich glaube das wird nur passieren, wenn man die Leute mit ihren Themen abholt, an ihre Interessen anknüpft. Ein ganz einfaches Beispiel, das vielleicht funktioniert: Man könnte einen Wettbewerb machen für eine große Skulptur, zum Beispiel eines Fußballers und diese dann auf den Borsigplatz aufstellen. Alle Bewohner könnten ihre Entwürfe einreichen. Eventuell würden sie dafür „Chancen“ geben. Das Thema Fußball hat hier für die Anwohner eine Aktualität und gleichzeitig eine historische Dimension.

Die „Chancen“ könnten aber auch spielerisch eingesetzt werden. Vielleicht als Lotterie oder wie bei Bingo. Ein Gewinn könnte sein, dass man mit den Künstlern zusammen essen geht, sich unterhält oder auch ein Kinobesuch oder eine Tanzperformance. Der spielerische Charakter würde die „Chancen“ verändern. Der Anreiz, mehr „Chancen“ zu bekommen, würde durch den spielerischen Charakter erhöht.

Wie lässt du die Leute an deiner Arbeit teilhaben? Wie lässt du sie an der Kunst partizipieren?

In meiner Arbeit ist besonders wichtig, Menschen mitreden und mitbestimmen zu lassen, was hier geschehen könnte. Partizipation bedeutet für mich, dass man sich in einem intensiven Dialog bewegt. Nicht etwa an der Wirklichkeit vorbei zu agieren, sondern zu sehen, dass die Menschen, die hier leben, diese Wirklichkeit bestimmen. Ich höre ihnen zu und zeige Möglichkeiten zur Mitgestaltung.

Damit Partizipation gelingt, braucht es aber einen wachen Geist und das Interesse, sich zu beteiligen. Mitbestimmung zu ermöglichen, bedeutet auch, die Expertisen der Anwohner anzuerkennen. Die Anwohner wissen, was hier läuft, kennen sich aus und wissen, was getan werden muss und wo die Defizite sind.

Partizipatorisch Arbeiten bedeutet, sich umzuhören und zuzuhören, Geschichten zu sammeln. Aus den Geschichten entstehen Theaterstücke, die später aufgeführt werden. Die Aufführung bringt wiederum Menschen zusammen, die wieder ins Gespräch kommen. Kunst ist Dialog.

Was möchtest du den Menschen am Borsigplatz mit auf den Weg geben?

Ich möchte Keime für etwas Neues säen. Kinder und Jugendliche können durch die Theaterarbeit von der Leidenschaft gepackt werden, die eigene Zukunft aktiv mitzugestalten. Sie haben das Potenzial, das Zepter selber in die Hand zu nehmen, und setzen ihre eigenen Ideen selbstständig um. Das Spielen auf der „Bühne“ setzt sich dann fort in der Übernahme von Verantwortung im direkten Umfeld. Vielleicht leiten sie ja sogar später selber eine Gruppe an. Durch Aufführungen können zum Beispiel die Eltern der Kinder erreicht werden. Wenn die Eltern sehen, dass es den Kindern gut tut, Theater zu spielen, werden sie vielleicht selbst Initiative ergreifen und sich dafür einsetzten, dass es weitergeht. Möglicherweise setzen sie sich für entsprechende Räumlichkeiten ein.

Ich möchte den Menschen hier zeigen, wie sie sich selbst artikulieren können und zwar auf eine künstlerische Art und Weise, und was es heißt, eine Intervention im öffentlichen Raum durchzuführen. So können sie mit einem anderen Selbstbewusstsein an die Öffentlichkeit herantreten. Aber das geht natürlich nicht von heute auf morgen.

Ich nehme das Projekt als Herausforderung an und versuche, trotz Zeitknappheit, Kommunikationsschwierigkeiten und dem noch zu kleinem Netzwerk etwas zu bewegen, und habe auch schon meine Erfolge: Ich arbeite nun regelmäßig im Vincenzheim mit einer Gruppe von sieben jungen Flüchtlingen. Dann arbeite ich noch an einer Förderschule mit einer Gruppe von elf Kindern. Gerade da ist Theater sehr wichtig. Eine Förderschule ist nicht gerade eine Eliteschule. Wenn man dort gelandet ist, scheint es, sich wie auf einem Abstellgleis zu befinden. Mit Theaterspielen lassen sich viele Potenziale entdecken, die sonst nicht gesehen werden. Die Kinder können merken: Ich habe etwas drauf! Ich kann etwas!

Auch mit einer Seniorengruppe fange ich Ende Januar an zu arbeiten. Vielleicht werde ich alle Stücke, die entstehen, zu einer großen Aufführung zusammenführen. Vielleicht wird es ein gemeinsamer Parcours aus allen Stücken, bei dem alle zusammenkommen.

Kunst kann die kleine Welt am Borsigplatz positiv verändern. Aber wenn wir Armut und soziale Benachteiligungen in einem Stadtteil bekämpfen wollen, so brauchen wir weniger marktschreierische Aktionen, als vielmehr nachbarschaftliche Strukturen, in denen kreative und partizipatorische Ressourcen nachhaltig gedeihen können.

Olek, herzlichen Dank für das Gespräch!

Foto (oben): Guido Meincke

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

»