Arabian Prospects III Next Level - Dubai, 2007, Foto: Frederic Lezmi

Perspektive Umbruch

am 11. April 2016 | in Allgemein, Diskurse, Perspektive Umbruch | von | mit Ein Kommentar

„Perspektive Umbruch“ lautet das neue Thema der Stiftungsarbeit der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft. Das bewusst weit gesteckte Themenfeld nimmt Veränderungsprozesse in den Blick, die als Umbrüche wahrgenommen werden – auf gesellschaftlicher und individueller Ebene. Ein erster Text über Fragen, Wahrnehmungen und künstlerische Perspektiven im Themenfeld Umbruch.

Meeresrauschen empfängt die Zuschauer. Lange weiße Stofftücher bahnen sich ihren Weg seicht fließend von der Bühnendecke hinunter zum Boden. In ihnen schimmert das blaue Licht der Scheinwerfer. Die Lichter im Zuschauerraum werden gedimmt, das Stück beginnt.

Neun junge Menschen betreten nach und nach tanzend die Bühne, tanzen ihren eigenen Tanz, der dann zu einem gemeinsamen wird. Die Stimmung scheint ausgelassen, eine Projektion zeigt Bilder der Lebensfreude auf den weißen Stoffbahnen. Doch plötzlich scheint die Musik durch eine Störfrequenz unterbrochen. Ein Tänzer taumelt, wird wie von einer fremden Macht aus der Reihe entfernt, fällt, steht wieder auf, greift nach einer Stoffbahn und zieht diese an eine Bühnenseite. Die Anderen tanzen weiter, jedoch ertönt immer wieder eine Störfrequenz, die auch die Anderen nach und nach zum Taumeln bringt. Das Bühnenbild sortiert sich neu. Aus den weißen Stoffbahnen, die zu Beginn so angenehm von der Bühnendecke geflossen sind, ist nun ein Gewirr an gekreuzten und sich überlappenden Stofftüchern geworden. Der Fluss der Bahnen wurde gestoppt, sie wurden gefaltet, Stoffbrüche sind entstanden. Auch bei den jungen Menschen scheint alles nun anders. Das Licht der Projektion ist erloschen. Die Schauspieler stehen starr.

Aufführung von grubengold im PRINZREGENTTHEATER Bochum. Foto: Sandra Schuck

Aufführung von grubengold im PRINZREGENTTHEATER Bochum. Foto: Sandra Schuck

„Ein Umbruch?“, denke ich während nun die Taschenlampen in den Händen der jungen Schauspieler ihre starren Gesichter von unten beleuchten und diese in gespenstische Schatten tauchen. Ein junger Mann beginnt nun auf Arabisch zu sprechen. Ich verstehe nicht, was er sagt, jedoch lässt seine Mimik, Gestik und die Tonlage der Stimme auf Verzweiflung schließen.

 

Was ist ein Umbruch?

Zurzeit suche ich Gegebenheiten, die als „Umbruch“ bezeichnet werden. Zugegebenermaßen ist es nicht so schwer, welche zu finden. Schlage ich die Zeitung auf oder schaue die Tagesschau, scheint es überall am laufenden Band sogenannte Umbrüche zu geben. Googelt man Umbruch, wird man schnell fündig: „Banken im Umbruch“, „Arbeitswelt im Umbruch“, „Umbruch in der arabischen Welt“, „sozialer Umbruch“,  „Hotelbranche im Umbruch“, das Museum Marta Herford zeigt zurzeit „Harmonie und Umbruch“. Verteilungskämpfe, Kriege, Tode, Zerfall, räumliche Umstrukturierung, persönliche Schicksale, Identitätskrisen. Es scheint in unserer Geschichte zu jeder Zeit Umbrüche gegeben zu haben. Genaugenommen interessiert mich am Umbruch aber nicht nur der Umbruch an sich, sondern besonders die verschiedenen Wahrnehmungen und Perspektiven der Menschen auf Umbrüche. Die Suche nach künstlerischen Perspektiven führte mich am heutigen Abend nach Bochum ins PRINZREGENTENTHEATER.

 

Was macht ein Umbruch mit mir? Und was genau ist überhaupt ein Umbruch? Etwas scheint zu brechen. Aber es „zer“bricht nicht unbedingt, da es dort ja noch das kleine Wort „um“ gibt. Es bricht eben einfach um. Verbiegt es sich in eine andere Richtung? Aber verbiegen ist nicht gleich brechen. Zwischen „Um“ und „Bruch“ scheint sich eine Art Spannungsfeld zu befinden. Vielleicht muss etwas so lange überdehnt werden, bis es dann bricht?

Die letzte Bushaltestelle Europas. Dunavatu de Jos, Romania 11/2008. Foto: Frederic Lezmi

Die letzte Bushaltestelle Europas. Dunavatu de Jos, Romania 11/2008. Foto: Frederic Lezmi

Was passiert bei einem Umbruch? Ist es wie mit den Stoffbahnen in dem Theaterstück? Kommt er plötzlich und dann ist alles anders? Oder schleicht er sich an und es gibt bereits vorher Ankündigungen, Vorumbrüche, Schwingungen, Wellen, Störfrequenzen. Wie bei einem Vulkanausbruch, bei dem es bereits Mikrobeben gibt, lange bevor er dann Lava spuckt.

Kann ich einen Umbruch verhindern? Wie kann ich einen Umbruch erreichen? Was ist vor dem Umbruch? Was ist nach dem Umbruch? Ist vor dem Umbruch gut und nach dem Umbruch schlecht? Oder ist es einfach nur anders? Wer nimmt wie einen Umbruch wahr? Welche Wahrnehmungen von Umbrüchen gibt es? Wie können sich die Perspektiven verschieben? Und wann wird der Umbruch zum Aufbruch?

 

Die Kunst als Möglichkeit, die Wahrnehmung und das Erleben eines Umbruchs zu transformieren

Die eben beschriebene Szene ist Teil des Stückes „grubengold“, das zur Zeit im PRINZREGENTTHEATER Bochum aufgeführt wird. „grubengold“ greift einige meiner Fragen auf und gibt seismographisch Schwingungen ganz individueller Umbruch-Erlebnisse wider. Neun junge Menschen aus fünf Ländern erzählen von ihren Erfahrungen auf dem Weg nach Deutschland und dem Ankommen im Hier und Jetzt. Das Theaterspiel, der Tanz, die Musik, die Projektion – ein Zusammenspiel, das ihnen ermöglicht Erfahrungen von Auf- und Umbrüchen auszudrücken. In den Szenen des Stückes geht es um Flucht, Unterdrückung, persönliche Einschnitte, Verluste aber auch um Perspektiven der jungen Menschen.

Der künstlerische Ausdruck bietet viele Möglichkeiten, das zu kommunizieren, was manchmal schwer in Worte zu fassen ist. Künstler können Perspektiven auf und von Umbrüchen sichtbar und sinnlich erfahrbar machen und damit neue Perspektiven eröffnen, die den Umbruch auch als Aufbruch zu Neuem zeigen können. Damit nehmen sie eine Art Schlüsselposition in der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung ein. Kunst hat das Potenzial, Veränderungsprozesse, die unsere Gesellschaft noch viele Jahre prägen werden, zu analysieren, sichtbar zu machen und dadurch aktiv mitzugestalten. Die Teilhabe an diesen künstlerischen Prozessen und Produkten eröffnet so für die unterschiedlichsten Menschen eine perspektivische Horizonterweiterung.

 

Die Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft wird sich mit ihren Projekten ab 2016 dem Thema „Perspektive Umbruch“ widmen und vielen Menschen eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema ermöglichen. Im Zentrum der Stiftungsaktivitäten werden gesellschaftlich relevante künstlerische Praxisprojekte mit Kooperationspartnern stehen, die ebenso teilhabe- wie zielgruppenorientiert unterschiedliche Perspektiven sichtbar und sinnlich erfahrbar machen.

Foto oben: Frederic Lezmi

Eine Antwort zu Perspektive Umbruch

  1. Umbruch in Deutschland hat sein Pendant nicht nur in den arabischen Ländern, sondern in erster Linie in Afrika

Schreibe einen Kommentar zu Hanns-Peter Kirchmann Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

« »