Foto: Guido Meincke

„Plötzlich trafen Menschen auf Kunst und wurden kurz von ihr berührt“

am 14. September 2015 | in Allgemein, faktor kunst 2013, Public Residence: Die Chance | von | mit 0 Kommentaren

Nora Reul ist 24 Jahre alt und studiert in Dortmund Kunst und Deutsch auf Lehramt. Sie ist in Münster geboren, in Wesel aufgewachsen und hat bereits in Bielefeld Design studiert. Nun lebt sie seit einem Jahr am Borsigplatz und hat dort bei Aktionen im Rahmen von „Public Residence: Die Chance“ aktiv mitgewirkt. Teresa Grünhage hat sie getroffen und mit ihr über ihre Eindrücke gesprochen.

Nora, du lebst nun seit einem Jahr in Dortmund am Borsigplatz. Wie hast du von „Public Residence: Die Chance“ erfahren?

Als ich zum Studium nach Dortmund gezogen bin, habe ich gewusst, dass das Viertel, in dem ich nun wohnen werde, kein sehr beliebtes Viertel ist. Aber ich hatte die Vorstellung, dass man ja hier auch etwas verändern kann. Ich dachte mir, wenn hier keiner hingeht und alle nur eine negative Meinung haben, dann verändert sich auch nichts. Die ersten Monate waren dann aber kein sehr leichter Start für mich und ich habe mich nach einem Rettungsanker umgeschaut.

Eines Tages habe ich die neuen Straßenschilder gesehen. Und ich dachte: Wow! Was für eine tolle Idee, dass hier alles neu benannt wurde! Ich fand die neuen Straßennamen super. Dann habe ich den kleinen Schriftzug auf den Schildern „Public Residence“ gegoogelt, aber fand das, was ich las, alles ein bisschen verwirrend: Ein Kunstprojekt von einer Stiftung, einem Verein und ganz verschiedenen Akteuren. Mir war nicht ganz klar, wie das zusammenpasste. Ich fand es aber klasse, dass hier im Viertel etwas mit Kunst passiert und so bin ich neugierig zum Büro des Vereins Borsig 11 gegangen.

Und dort hast du dann mehr erfahren?

Ja, und dort habe ich erst einmal die Kunstwährung Chancen bekommen. Aber das mit den Chancen habe ich nicht verstanden und das tue ich manchmal auch immer noch nicht. Besonders verstehe ich nicht ganz, wofür man Chancen verdienen kann und wofür nicht. Ich hatte bei den Chancen das Gefühl, dass sich alle nicht so einig waren, wofür sie nun sind und was man damit machen kann. Da fehlten ein wenig die Spielregeln.

Was hast du denn mit deinen ersten Chancen gemacht?

Erst einmal gar nichts. Ich habe die ganze Zeit überlegt, ob ich ein Straßenschild machen lasse und sie dafür gebe. Aber dann dachte ich mir, dass vielleicht ja noch eine Gelegenheit kommt, für die es sich eher lohnt, Chancen zu investieren als für die Kunst. Vielleicht etwas Soziales. Ich dachte, dass es vielleicht ein bisschen egoistisch sei, die Chancen nur für ein Schild einzusetzen. Ich habe sie dann im Endeffekt dem Künstler Rolf (Rolf Dennemann) gegeben, als ich ihn bei seinen Aktionen kennengelernt habe.

Bei Rolfs „Sprechstunde“ habe ich dich zum ersten Mal getroffen. Ich kann mich daran erinnern, dass du von Anfang an aktiv dabei warst, Aufgaben übernommen hast und dann mit Rolf zusammengearbeitet hast. Wie war es für dich mit einem Künstler zusammenzuarbeiten?

Ja, zunächst bin ich zu Rolfs „Sprechstunden“ gegangen und habe wie alle anderen Anwohner einfach teilgenommen. Später war ich dann bei seinen Interviews mit Anwohnern dabei, habe sogar eins selbst gemacht, habe transkribiert oder auch Leute gefragt, ob sie Zeit für ein Interview haben. Rolf hat dann aus diesen Texten und den Ideen der Anwohner Szenen geschrieben. Wir haben bei Rolf zu Hause auch gemeinsam geplant oder Szenen geübt. Für die VIP-Führung habe ich dann auch später Texte zu den Stationen geschrieben, bin mit ihm die Wege abgegangen und habe bei der Führung vor der Gruppe gesprochen. Ich war also bei fast allen Schritten seiner Arbeit dabei.

Ich finde es spannend, dass du selbst ja auch im Studium künstlerisch tätig bist. Hier hast du nun die Prozesse mitbekommen und auch gesehen, was die Public–Residence-Künstler gemacht haben. Hat dich dabei etwas besonders inspiriert?

Nora Reul bei den Borsig VIPs in Aktion, Foto: Florenz-Reul

Nora Reul bei den Borsig VIPs in Aktion, Foto: Florenz-Reul

Mir hat Rolfs Arbeit am besten gefallen. Ich mag Kunst, die Stadt- und Ortsbezogen ist, die sich mit Biographie auseinandersetzt, mit Orten und den dort lebenden Menschen, und ich mag es, wenn Realität auf Fiktion trifft. Damit habe ich mich auch schon vorher beschäftigt. Fiktive Führungen finde ich großartig. Eine Führung, die real erscheint, aber bei der plötzlich Inhalte auftauchen, die erfunden sind und die Emotionen hineinbringen, regt die Phantasie an. Bei den VIP-Führungen fand ich es toll, dass die Leute mitgespielt haben und so zu einem Teil der Performance wurden. Ein großer Schritt war für mich auch die Möglichkeit selbst in der Führung vor der Gruppe zu sprechen. Das hat Spaß gemacht und ich werde es bestimmt wieder tun.

 

Hast du das Gefühl, dass sich hier im Viertel etwas durch das Projekt verändert hat?

Ich kann mich noch sehr gut an die Tanz-Performance von Dorothea Eitel im Höschpark erinnern. Dort waren zwei Kinder, die zugeschaut haben und sich Bewegungen abgeschaut haben. Sie fingen dann an, die Bewegungen nachzuahmen. Total klasse! Sie waren so begeistert! Für sie war es etwas ganz Neues, was sie nie zuvor gesehen haben, und wenn es diese Aktion nicht gegeben hätte, wären sie mit dieser Form der Kunst vielleicht nie in Berührung gekommen. Und das ist das Tolle an Kunst im öffentlichen Raum. Menschen, die sonst keinen Zugang zur Kunst haben, treffen sie dann ganz zufällig. So auch im Höschpark. Sie waren dort, weil sie sonst auch dort unterwegs sind. Plötzlich trafen sie auf Kunst und wurden ganz kurz von ihr berührt. Kunst findet oft in abgegrenzten Räumen statt und die Menschen, die nie mit ihr zu tun haben, empfinden diese Räume als Barriere. Im öffentlichen Raum gehen nicht die Leute zur Kunst, sondern treffen sie einfach – ganz unvoreingenommen. Deswegen haben mir alle Aktionen, die draußen waren, am besten gefallen. Sie waren völlig frei und offen für alle. In die 103 sind nämlich auch viele Leute nicht gegangen, weil sie sich nicht getraut haben. Ich glaube, diese Eindrücke bleiben den Menschen hier am Borsigplatz und haben vielleicht auch ihre Wahrnehmung verändert.

Nun hat die Finissage bereits stattgefunden und die Residence-Zeit der Künstler ist vorbei. Wie geht es hier weiter und was würdest du dir für das Projekt wünschen?

Ja, die Künstler sind nun weg. Nun müssten Bürger anfangen etwas, zu machen, damit der Chancenkreislauf auch weiter gehen kann. Ich glaube, es gibt viele, die etwas machen wollen. Nur ist der Umbruch im Kopf so schwer, um vom Mitmachen ins Selbermachen zu kommen. Ich denke, viele stellen sich die Fragen, was darf ich jetzt selbst machen und wie kann ich es selbst machen? Wie fange ich an? Vorher durften auch Anwohner selbst etwas machen, aber es musste immer mit einem Künstler abgesprochen werden und von ihm unterstützt werden. Ehrlich gesagt, wenn ich eine Idee hätte, wüsste ich auch nicht so ganz, wie ich da vorgehen sollte. Sollte ich nun zum Verein gehen und sagen, dass ich eine Idee habe und dafür Chancen brauche? Das ist alles ein wenig unklar und ich hoffe, dass es Menschen gibt, die nicht so viel darüber nachdenken, sondern einfach etwas machen, wenn sie eine Idee haben. Das Tolle ist aber, dass es das Ladenlokal 103 ja noch gibt und ich sogar schon gesehen habe, dass es dort nun neue Aktionen von Anwohnern gibt. Ich bin gespannt wie es weitergeht!

Nora, herzlichen Dank für das Gespräch!

Foto: Eine Sprechstunde mit Rolf Dennemann, Fotograf: Guido Meincke

 

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