Sprechstunde: Geschichten aus dem unerkannten Paradies

am 07. April 2015 | in faktor kunst 2013, Public Residence: Die Chance | von | mit 0 Kommentaren

Es wird voll am ovalen Tisch im Konferenzraum des Vereins Machbarschaft Borsig11, der hier die Bürger miteinander verknüpfen will. Der Bestechungskuchen wurde gebacken und ist noch warm. Tee und Kaffee stehen bereit. Wir treffen uns zu einem Gespräch in kleinem Kreis. Der Autor will Geschichten sammeln und die erste Frage ist: Welche Geschichten willst Du denn hören?

Kleiner Termin, 5. Februar 2015

„Die, die ich hören will, schreibe ich mir selbst“, antwortet der Autor in Tucholsky-Manier und muss dabei seine Mimik so gestalten, das erkennbar ist, dass Humor bei diesen Treffen eine wichtige Rolle spielen soll.

Wie dreht man eine Erwartungshaltung in eine Kaffeekränzchenhaltung um? Die Erzählungen kommen von selbst. Man muss nur mal einen Faden legen und dann wird gesponnen und das Aufnahmegerät verliert nach ein paar Minuten die Energie. Also Notizen machen. Wie war das? Ach ja.

Mehrere Generationen. Es fehlen die 20-jährigen, die mutmaßlich damit beschäftigt sind, zu studieren, zu lernen, ihr Leben einzurichten, zu konsumieren, ihre Beziehung in Frage zu stellen, ihr Desinteresse zu pflegen oder ihr Email-Postfach zu entrümpeln.

Wenn Menschen zwischen 40 und 70 zusammensitzen, kann man davon ausgehen, dass die Vergangenheit eine Hauptrolle spielen wird. Der Erinnerungsrundumschlag mit Erkenntnisgewinn, Anekdoten und Verwunderung nimmt seinen Lauf. Die erste Frage nach der Adresse von J. ruft eine Reihe von Geschichten hervor. War da nicht damals…? Wir reden über die BVB-Kirche, die Dreifaltigkeit und Pastor Ansgar. Busse sollen hier vorfahren, um den Heiligen Ort zu besuchen. Also doch tüchtiger Tourismus. Einige sind hier geboren, andere erst vor nicht langer Zeit zugezogen. Eine Gruppe junger Mädchen kommt hinzu, um die zehn Jahre alt, setzt sich aufs Sofa und lauscht. Jetzt sollten wir die Themen Rausch und Sex nach hinten schieben. Stattdessen geht es um ehemalige Kinos (da wo jetzt die Moschee ist). Das Kino gehörte der Oma Gabel – 1953/54. Am Borsigplatz gab es den Assauer-Kino-Saal. Nein, nicht der Schalker Assauer, obwohl jemand meint, es gäbe da eine entfernte Verwandtschaft.

Joszef hat schon einmal in Dortmund gewohnt, ist zurück nach Ungarn und nun zurück am Borsigplatz. Er ist Altenpfleger und Schauspieler und wenn er sich im Seniorenheim vorstellt, sorgt sein Nachname „Toth“ zeitweise für etwas Unruhe. Die Kinder sitzen beunruhigend brav immer noch auf der Couch und lauschen.

Man erinnert sich an die Chinesen, die 2003 ein ganzes Werk abgetragen haben. Der Zutritt zum Hoesch-Park kostete damals zehn Pfennig und fast alle sagen: „Ich hab mich hier sofort wohlgefühlt“. „Ich komme aus Unna und ich war erschrocken über die Gewalt, die hier spürbar war. Eine andere Welt.“ Sie erlebte einen Überfall und seitdem habe es sich nicht verschlechtert, das Gefühl für hier. Die Nachbarn reden über den regen Drogenhandel vor ihrer Tür und schauen dabei aus, als redeten sie vom letzten Hawaii-Urlaub. „Da kommt ein Alter mit einem Fahrrad, übergibt etwas, bekommt etwas, und radelt wieder weg. Es halten dicke Autos, Scheibe runter, Deal gemacht, weg.“

Die Nachbarschaft funktioniert. Man kennt sich. „Wir hatten nie ein Problem. Ich hab die Runde gemacht und Leute auf der Straße gefragt, wie es sich denn hier so lebt. Alle waren nett und offen.“

Wir befinden uns also in einem unerkannten Paradies und die, die noch vertrieben werden sollen, sorgen für die Klischees.

Ahmed betreibt einen Kiosk. Er hört schlecht, sieht schlecht, spricht Einwandererdeutsch. Er ist Kurde und hat sich den Kiosk als Lebenserhaltungsraum zugelegt. „Aus Langeweile“, sagt er. Er schreibt Gedichte und will jemanden finden, der ihm lauscht und sein Leben aufschreibt. Es müsse jemand sein, der nicht nur Kurdisch spricht, sondern auch so fühlt.

Es gibt noch Kuchen und wir schwelgen zwischen 1942 und 2015. Es gab drei Metzgereien und drei Bäcker. Jetzt gibt es Kioske und eine Bäckerei, die manche als Café bezeichnen. Und kurz bevor man sich verabschiedet wird noch von einem Schuh berichtet. „Ich finde einen Schuh im Hinterhof. Da hat jemand geschlafen im Keller. Die Tür war offen. Zwei Kekspäckchen waren weg.“

Immer wieder werden einzelne Schuhe gefunden. Ein erschreckendes Bild. Wer verliert oder vergisst einen Schuh? Wurde hier gemetzelt? Gibt es eine illegale Chirurgie? Dieser einzelne Schuh verfolgt mich, den Autor, seit Jahr und Tag. Ich sehe ihn an Stränden liegen, den einzelnen Kinderschuh, an Raststätten, auf Spielplätzen und Wiesen, am Straßenrand und in Müllcontainern. Wo ist jeweils der zweite Schuh, damit es ein Paar ist wie ein Paar Socken oder Ärmel an Jacken? Rätselhafte Welt. Die Kinder sind inzwischen nach Hause gegangen und haben alle ihre Schuhe mitgenommen.

Das Vorhaben

Es könnte ein Drehbuch entstehen, ein Hörspiel oder gar Theaterszenen. Dazu lädt der Autor, Regisseur und Schauspieler Rolf Dennemann sonntäglich um 18 Uhr die Bewohner um den Dortmunder Borsigplatz ins „Ladenlokal 103“, in die Oesterholzstraße 103 ein. „Sprechstunden“ nennt Rolf Dennemann dieses Format, welches im Rahmen des Kunstprojektes „Public Residence: Die Chance“ stattfindet. Ein Raum wird geschaffen, der ein Bürgertreff ist, aber andere Wege geht. Austausch steht hier an erster Stelle: das Erzählen, Zuhören und Präsentieren. Die Kunst spielt dabei eine große, wenn auch unaufdringliche Rolle. So sollen Geschichten nah an der Lebensrealität der Bewohner und Besucher – wird Alltägliches – in Kunst verwandelt werden. Die Texte, die dabei entstehen, nennt er „Borsig-Blinks“.

Fotomontage: Rolf Dennemann

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