Sprechstunde: Open Stage

am 10. Juni 2015 | in faktor kunst 2013, Public Residence: Die Chance | von | mit 0 Kommentaren

Dünn gesät heute im Frühlingsflimmern. Wer gestern noch einen Ausflug macht, will heute nicht in die Sprechstunde; dennoch versammelt sich die Versammlung, wir erinnern uns an Erinnerungen und hören, was die Kunst dazu sagt.

19. April 2015

„Erinnerung ist ein zentraler Parameter menschlicher Existenz. Erinnerung ist notwendig, um ein Bewusstsein für das eigene Ich zu entwickeln. Jedes ‚Ich‘ ist verknüpft mit einem ‚Wir‘, von dem es wichtige Grundlagen der eigenen Identität bezieht. Jeder Mensch wird in eine Familie, eine Generation, eine Nation, eine Kultur hineingeboren und teilt Erinnerungen mit diesen verschiedenen Gemeinschaften. Die privaten Erinnerungen sind eingebettet in ein kulturelles Gedächtnis.“ (Regina Michel, Geschäftsführerin, ZF Kunststiftung)

Marcel Proust wird bemüht:

Vernetzte Zeit

„Sobald ein bereits gehörtes Geräusch, ein schon vormals
geatmeter Duft von neuem wahrgenommen wird,
und zwar als ein gleichzeitiges Gegenwärtiges und
Vergangenes, ein Wirkliches, das gleichwohl nicht
dem Augenblick angehört, ein Ideelles, das
deswegen dennoch nicht Abstraktes bleibt, wird
auf der Stelle die ständig vorhandene, aber gewöhnlich
verborgene Wesenssubstanz aller Dinge frei…“

„Ich bin eine Gefangene meiner Erinnerungen, und das Ziel ist, sie loszuwerden“, hat Louise Bourgeois einmal gesagt und hinzugefügt, dass sie sich nur von ihrer Vergangenheit befreien könne, wenn sie sie rekonstruieren, sie zur Skulptur machen würde.

Die Schauspielerin Elisabeth Pleß ist zu Gast. Wir lesen ein paar Texte zum Thema Frühling und Ausschnitte aus dem Programm „Bratkartoffeln mit Speck“. Der Hund in der ersten Reihe bleibt still.

Im Mittelmeer ertrinken Hunderte, die Nachrichten überschütten uns heute mit Grausamkeiten und Erinnerungen, an den Warschauer Aufstand, an KZ-Jubiläen und an den Völkermord an den Armeniern.

Habe ein mulmiges Gefühl an diesem lauen Abend.

Heute ist „Open Stage“ angekündigt und Andrea aus der Nachbarschaft trägt einen achtminütigen Ausschnitt aus einem Programm vor, an dem sie arbeiten will: „Das sprachbegabte Nacktprimat.“ Sie hat es selbstbewusst hinter sich gebracht. Wir reden noch darüber, dass wir das nächste Mal über Heimat reden.


 

Morgenmuffel und Morgenmäntel

Autor: Rolf Dennemann

Wie schön ist es doch, wenn man sich morgens nicht anziehen muss, wenn man in der Nachtwäsche auf der Terrasse stehen kann, in der Jogginghose Brötchen kaufen oder im Morgenmantel im Hauseingang stehen kann.

Es gibt Viertel, wo der morgendliche Anblick von Morgenmantelträgern, Überwurfkittel oder Frühstückskleidung zur Normalität gehört.

Das ist dort, wo die Sonne ein paar sinnliche Strahlen zwischen die Häuser wirft, wo die Straße früher zum Autowaschen benutzt wurde, wo sich früh kein Fremder sehen lässt und wenn, dann ist er Gast in dem einen oder anderen Schlafzimmer der Alleinstehenden oder Strohwitwern.

Okay, es ist das Wetter, das zu diesem authentischen Treiben führt, aber es kann auch eine Last sein, sich der Helligkeit auszusetzen.

Die dunklen Gestalten der Nacht, die Barflies und Partygänger, sie meiden das Tageslicht, würden Kopfschmerz- und Schwindelanfälle bekommen, setzten sie sich der Sonne aus.

Sie liegen quer in ihren Betten. Meist hängt ein Bein oder ragt ein Arm seitlich aus dem Schlafgestell.

An grauen Regentagen weinen die Sonnenlustwandler, die anderen freuen sich über die Normalität des Alltags.

Wenn es regnet, stehen sie wie Hunde an der Tür, darauf wartend, dass sie hinausdürfen, in den Garten oder nur ein Stück auf die Straße, um die Mülltonnen zu bestücken.

Der Morgenmantelträger kratzt an der Tür, scharrt mit den Pantoffeln. Sobald der Sonnenstrahl auftaucht, wird die Tür aufgerissen und es scheint, als wollte er losrennen, in den Park, in die Grünanlage, um sein „Geschäft“ zu erledigen.

Aber nein, er tritt lässig vor die Tür, souverän und aufrecht.

„Sieh, Welt! Hier bin ich und ich werde mich heute vorerst nicht anziehen!“

 

Foto (oben): Jullian Sankari (Schauspielerin Elisabeth Pleß)

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