Ausschnitt aus Aufzeichnungen von Rabea Dransfeld und Linnet Oster zu ÜBENÜBENÜBEN³ in Rheydt.

Über das Üben: Zwischen Disziplin und Freiraum

am 06. Dezember 2021 | in Allgemein | von UND | mit 2 Kommentaren

Die Teilnehmerinnen des Mentoring-Programms ÜBENÜBENÜBEN³ und Leiterinnen des Workshops „Fährten, Formen, Fritten“ im Rahmen der Greifswalder Resonanzen, Rabea Dransfeld und Linnet Oster, sinnieren über das Üben und Erproben im Kontext partizipativer, adaptiver Kunst in öffentlichen Räumen und über die Frage, ob das, was an einem Ort geübt wurde, an einen anderen Ort transferiert werden kann.

 

Aufzeichnungen von ÜBENÜBENÜBEN³. Zeichnung von Linnet Oster und Rabea Dransfeld.

Üben üben üben …

Was bedeutet es eigentlich zu üben? Es werden Vokabeln geübt, es wird Lesen geübt, Matheaufgaben werden geübt. Man kann Kritik üben oder sich in Geduld. Das Spielen von Gitarre oder Geige kann geübt werden, eine Choreografie oder eine Ansprache eingeübt und ein Beruf oder eine Tätigkeit ausgeübt.

Laut Duden bezeichnet das Wort „üben“ zweierlei: Erstens die Bestrebung etwas durch Wiederholung und durch Übung als Fertigkeit zu erlernen oder zu verbessern. Und zweitens den gehobenen Ausdruck dafür, jemanden etwas durch Wort oder Tat zuteilwerden zu lassen – etwa Kritik, Verrat oder Gnade. Interessant erscheint zudem, dass das Wort in seiner Herkunft und Geschichte sowohl Anleihen im Althochdeuten uoben hat, was so viel bedeutet wie ‚Landbau betreiben‘ (daher auch die Synonyme „büffeln“ und „ochsen“…?), als auch im Altsächsischen ōƀian, was mit ‚feiern‘ zu übersetzen ist.

Das englische Äquivalent zum Üben, practice, deutet darauf hin, dass es sich hier um eine Praxis, ein Tätigsein handelt. Meist wird hiermit assoziiert, dass Wissen zur Anwendung gebracht wird und zu einem Können gelangt, indem eine Tätigkeit, ein methodisch wiederholtes Handeln, auf ein Ziel ausgerichtet wird. Es stellt sich die Frage, ob nur etwas geübt werden kann, von dem angenommen wird, dass es bereits existiert und von dem man ein festes Bild im Kopf hat. Aber wer beurteilt eigentlich, ob die Übung zum Erfolg und zu Kompetenz geführt hat und nach welchen Gelingenskriterien?

Es scheint, dass sich zwischen Büffeln und Feiern eine breite Palette an Erfahrungen des Übens entfaltet.

 

 

Frei nach Foucault: Üben als Disziplinierung oder Üben als Selbsterkundung ?

Der Philosoph Michel Foucault hat sich an verschiedenen Stellen seines Werks mit den unterschiedlichen Dimensionen des Übens befasst. In seiner Schrift „Überwachen und Strafen“ von 1975 zeichnet er die Geschichte und Entwicklung des Strafsystems und der Gefängnisanstalten nach, in denen körperliche Ertüchtigung und Marter als Mittel der Unterwerfung und Disziplin als Technologie von Macht vielfach Anwendungen gefunden haben (und bis heute finden). In Zuchthäusern und Besserungsanstalten sollen der Gesellschaft und des Rechts abtrünnig Gewordene durch Freiheitsentzug ihre Schuld sühnen und sich bestenfalls in Läuterung und Wiedereingliederung in die Normativität üben.

Diesem extremen Beispiel des Übens als Disziplinarmaßnahme setzt Foucault einige Jahre später eine weitere Deutung des Wortes hinzu (oder entgegen?): in der Spätphase seines Schaffens formuliert er eine „Ästhetik der Existenz“ (1983), in Anlehnung an das antike Konzept der Lebenskunst (technê tou biou) und Selbstregierung bzw. Selbstsorge. Um diese zu meistern, bedürfe es Übung. Üben in diesem Kontext bezeichnet das Verhältnis zu sich selbst, die Befähigung zu eigenen Entscheidungen und zur bewussten Lebensführung. Mehr steht hier die Autonomie als die Autorität im Mittelpunkt, denn üben kann man nur für sich selbst und was man selbst tun kann – für sich selbst und der Gemeinschaft zum Nutzen. Tatsächlich liegen die Formen der Disziplinierung und Techniken der Subjektkonstitution nach Foucault nah beieinander. In beiden Fällen soll das Üben zu mehr Handlungsmacht und Freiheit führen.


Von der Freiheit, frei zu sein

„Politische Freiheit in ihrer wahrhaftigsten und radikalsten Form ist die Freiheit, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen und die Freiheit des Tuns.“ – so schrieb Hannah Arendt, Philosophin, Publizistin und Professorin für Politikwissenschaften, in ihrem Essay „Die Freiheit, frei zu sein“, der vermutlich im Jahr 1967 entstand aber erst in ihrem Nachlass entdeckt und vor wenigen Jahren veröffentlicht wurde. In diesem Aufsatz beschäftigt Arendt sich mit Fragen der Befreiung, Freiheit und Revolution anhand historischer Betrachtungen zur Französischen und Amerikanischen Revolution. Das Handeln und die Möglichkeit der Beteiligung beschreibt sie als eine Praxis der Freiheit. Aus Sicht der Revolutionäre seien frei zu sein und etwas Neues zu beginnen fast das Gleiche. Wir seien alle von Natur aus Anfänger*innen und fähig Neues zu tun: so sei jede Geburt, jeder Gedanke ein Neuanfang.

In Anschluss an diese theoretischen Überlegungen kann das Üben, wenn es nicht Üben-Müssen, sondern Üben-Dürfen darstellt, als eine große Chance begriffen werden: erprobende Untersuchungen, die von Prozesshaftigkeit und Ergebnisoffenheit geprägt sind, eröffnen neue Freiräume und Möglichkeiten der Entwicklung.


Üben im Kontext Kunst, öffentlicher Raum und Partizipation

In dem Mentoringprogramm übenübenüben³ hatten wir die Gelegenheit über zwei Monate in einem öffentlichen Park, dem Maria-Lenssen-Garten in Mönchengladbach Rheydt, praktische Erfahrungen im Feld partizipativer Kunst zu sammeln. Nach den Lockdown-Monaten im Frühjahr 2021 war dies für uns und die Beteiligten eine Besonderheit: künstlerische Aktivitäten im sozialen Kontext, möglich durch die Frischluft und ausreichend Raum. Die Einzigartigkeit und Stärke des Formats haben wir darüber hinaus im Üben und Experimentieren als Programm erlebt: in der zeitlichen und inhaltlichen Gestaltungsfreiheit, in der Gelegenheit sich als Berufsanfängerin ausprobieren, aber im Team und mit der Möglichkeit des Mentorings, ergebnisoffen bzw. mit eigenen Zielsetzungen und der Möglichkeit dabei alle Phasen des Projekts selbst zu durchlaufen. Wir haben uns gefragt: Was ist „gute“ Kunst im öffentlichen Raum? Und was wollen wir in diesem Kontext üben? Unsere Erkundungen und Erprobungen bezogen sich auf diese Fragestellungen und gingen doch darüber hinaus.

So haben wir u.a. geübt … Gips anzurühren … Sockel zu gießen … mit flexiblen Zeitmanagement umzugehen … adaptiv und ortsspezifisch zu arbeiten … mit Menschen in Kontakt zu treten … unsere Rollen zu reflektieren und neue auszuprobieren, bzw. zu tauschen (Gestaltung – Vermittlung) … Bilder im png-Format digital zu bearbeiten … Türen zu öffnen (defektes Türschloss!) … Pixelschrift mit Flatterband zu weben … in einer WG zu leben … mit Hotlines zu telefonieren (Stromausfall) … neue (Vermittlungs-)Formate zu entwickeln: after work art session, Kunst nach Termin, 24h-Aktion … Rollschuh zu fahren … die Karte des Eiscafes auswendig zu lernen … Anzeige zu erstatten (Einbruch im Pavillon! )… Geduld zu haben: miteinander, mit dem Material, mit Corona-Verordnungen … Multitasking zu betreiben: parallele Planungen im Hinblick auf Anschlussprojekte … u.v.m.

 

 

Gips Gips Gips…

Als eine exemplarische Erläuterung zu unserem Übungsfeld soll an dieser Stelle kurz unser Arbeiten mit Gips beschrieben werden. Um einen Übungseffekt herzustellen und aus ästhetischen Gründen, hatten wir uns im Vorfeld entschieden, uns mit einem Material eingehend zu beschäftigen bzw. mit diesem zu beginnen. Da unser temporäres Atelier in einem weißgestrichenen klassizistischen Pavillon von ca. 1840 im Parkgarten verortet war, erschien uns die Farbe Weiß als Grundlage geeignet. Zudem gilt Gips historisch betrachtet in gewisser Weise als „Übungsmaterial“: als Werkstoff in der Kunstgeschichte wird er als Entwurfsmaterial assoziiert, z.B. wurden bei der Barockbildhauerei Gipsmodelle für Abdrücke oder als Vorlage für Arbeiten am Stein genutzt. Die Handhabung ist im Prinzip einfach zu erlernen und in der Verarbeitung bietet sich ein breites Spektrum an Möglichkeiten. 

Nach ersten Experimenten mit Putzgips (als Baustoff auch im Baumarkt erhältlich), entschieden wir uns für Stuckgips (sehr viel feiner in der Körnung, härtet schneller aus) als Material und führten schließlich eine Untersuchung mit 180kg KNAUF Gips durch. Zwischen Einkauf (Baustoffhandel) und Entsorgung (in der Mülltonne, nicht im Waschbecken!) experimentierten wir mit den Eigenarten des Materials, das sich als sehr dankbar erwies um niedrigschwellig ins plastische Arbeiten zu kommen – ganz gleich ob mit Workshopteilnehmenden, AnwohnerInnen, Kindern, SchülerInnen des Berufskollegs oder für zerstörungsfreudige nächtliche BesucherInnen.

Anmachen/Ansetzen/Anrühren               „Erst Gips[pulver] oder erst Wasser?“

Wasser einfärben, Einstreuen, Gießen, Abbinden             „Oh: Der Gips wird hart!“

Feilen, Schnitzen, Aufhängen     „Kann ich das noch verändern / bohren / brechen?“

Negativformen, Abdrücke, modulares und serielles Arbeiten, Sammeln von Fundstücken, neue Formeinheit und Neukombinationen

 

 

Transfer des Geübten im Workshop „Fährten, Formen, Fritten“

Nachdem wir uns über zwei Monate mit verschiedenen Materialien und Zielgruppen üben konnten, war es eine schöne Gelegenheit, in dem Workshop Fährten, Formen, Fritten im Rahmen der Greifswalder Resonanzen weiter experimentieren zu können. Neben dem Gips standen hier – auch durch notwendige Anpassung an das herrschende Regenwetter und Windverhältnisse – vor allem die Materialen Flatterband und Tape im Vordergrund. Gemeinsam mit Projektinteressierten und zum Großteil anwohnenden Kindern wurde plastisch probiert, Fritten geformt, geklebt, Spuren gelegt und Verbindungslinien gezogen auf der Rasenfläche der Kemnitzer Wende. Es zeigte sich, dass Anpassung an die Gegebenheiten vor Ort unumgänglich und sinnvoll sind, aber dass unser gesammeltes Erfahrungswissen uns überaus behilflich war, sowie die Haltung und Bereitschaft sich wiederholt neu zu erproben. Eine wichtige Erkenntnis: Wenn man sich selbst als übend begreift und nicht als anleitend, fallen oft Hemmungen einzusteigen, auch bei den Teilnehmenden – und zuweilen entstehen viel spannendere Prozesse und Produkte als man hätte planen können.

Wir freuen uns darauf, unsere gewonnenen Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten weiterzuentwickeln und vielleicht neuen Übenden im Mentoringprogramm im kommenden Jahr beratend und (weiter)übend zur Seite zu stehen.

 

Üben, üben, üben ohne Sinn dahinter |

Ich möchte ewig sein |

Ich möchte weiter üben |

(Pauls Jets)

 

 

 

Fotos: Linnet Oster und Rabea Dransfeld. 

 

2 Antworten zu Über das Üben: Zwischen Disziplin und Freiraum

  1. Karl-Heinz Imhäuser sagt:

    Schöner Beitrag, der im ersten Teil interessante Riesen der Literatur zusammenbringt, auf deren Schultern wir alle sitzen. Es wird ja bekanntlich Issac Newton zugeschrieben, der anläßlich einer Ehrung gesagt haben soll, nachdem man ihn für das klügste jemals auf Erden erschienene Menschenkind herausgehoben hatte: „Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.“
    Und so zeigt der Beitrag im zweiten Teil sehr anschaulich, dass wenn man auf den Schultern von Riesen nicht nur herumchillt, sondern handelnd zwischen büffeln und feiern hin und her oszilliert, sich der eigene Erfahrungshorizont weitet.

    • Theresa Herzog sagt:

      Das Oszillieren zwischen büffeln und feiern wird weitergehen in diesem Jahr. Wir freuen uns über den Kommentar und die gemeinsamen Erfahrungen. Mit besten Grüßen aus der MKG!

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