Foto: Susanne Bosch

Beobachtungen aus der 1. Woche in der Coronavirus bedingten Lebensrealität

am 03. April 2020 | in Allgemein, Resonanzen, Wagnisse des Neuen | von | mit 0 Kommentaren

Künstler*innen auf der ganzen Welt engagieren sich mit verschiedensten Interessengruppen, um Projekte zu entwickeln, die die Möglichkeiten für eine stärkere Beteiligung und Vermittlung in künstlerischen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Bereichen erwirken und erweitern. All diese künstlerischen Formate arbeiten mit Aspekten der Teilnahme, Teilhabe, Teilgabe oder des Teilseins von Menschen.

Beeinflusst von der alles verändernden Situation einer globalen Pandemie, damit einhergehender weltweiter körperlicher Isolation von Individuen und somit einer sich verändernden geopolitischen Landschaft stellen sich Fragen des sozialen Miteinanders und der Möglichkeiten in den Räumen, die uns im Moment zusammen zur Verfügung stehen. Ich möchte einige Beobachtungen der ersten Woche teilen. Geht es ja nicht um ein sich soziales, sondern um ein temporäres, räumliches Distanzieren.

 

1. Der neue Status Quo unserer Räume

Anstatt sich in der körperlichen Alltagsrealität zu begegnen, zu sprechen und zu sehen, finden wir uns nun global in der 2.Woche (für manche länger, für andere kürzer) hauptsächlich und mehr und mehr im virtuellen Raum der sozialen Medien wieder. Alle sind wir davon betroffen und das (zunehmend) weltweit.

Jegliche Normalitäten von noch vor Tagen sind außer Kraft getreten, wir befinden uns gemeinsam in einem neuen öffentlichen und sozialen Raum. In diesem Raum geht es um unsere Körper, die auf Leben und Tod gefährdet scheinen und deshalb auf 1,5 m Abstand den Kontakt vermeiden sollten. So gibt es nun „Infektionsgemeinschaften“, diejenigen, die zusammen leben und Alltag teilen. Dort findet sich die Familie ein, Paare, Wohn- und Lebensgemeinschaften; viele sind alleine. Manche treffen andere an der Schnittstelle Arbeit und Einkaufen.

Isolation, Distanzierung und Verzicht im öffentlichen und körperlichen Kontakt finden statt. Das geht einher mit weitestgehenden Einschränkungen von Bewegungsfreiheit, immer zum Wohle der Gemeinschaft und eigenen Gesundheit. An manchen Orten herrscht Ausgangsperre. Unsere Bewegungen im öffentlichen Raum sind unter Beobachtung.

Der bisher privateste Ort des Lebens, die Wohnung, wird nun Ort für Schule und Bildung, Arbeit, Freizeit, Sport und vieles mehr. Die Rollen vieler Menschen in diesen Infektionsgemeinschaften haben sich urplötzlich erweitert.

 

Geführte Hörspaziergänge. Foto: Susanne Bosch

 

2. Ein klareres Bewusstsein für das soziale WIR in uns

Da wir alle betroffen sind, entsteht ein anderes Bewusstsein des ICH im WIR. Entzug von gemeinsamem, öffentlichen Raum hat schlagartig allen bewusst gemacht, wo wir uns als Menschen treffen: In der Bildung, Sport, Kultur, Arbeit, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Freien, in Versammlungen aller Art, sei es politisch, spirituell oder kulinarisch. Der Entzug hat sofort verdeutlich, welchen Wert dieser Raum für uns darstellt. Wir lieben es, uns zu treffen. Wir mögen uns oft über diese Enge in öffentlichen Verkehrsmitteln beschweren, aber können uns so gut wie nicht auf 1,5 m Abstand bewegen. Es fühlt sich unnatürlich an. Auch die Sorge um den Verlust von besonders gefährdeten Menschen verdeutlicht, wieviel sie uns im Leben wert sind.

Klar ist, wir wollen nicht aufeinander verzichten, auf keinen Fall. Wir sind zutiefst soziale Wesen, wir suchen und brauchen einander. Wir funktionieren am Besten in Gruppen. In der jetzigen Phase des Prozesses ohne Zeitangabe verlegen wir viel unseres Miteinander notgedrungen in den virtuellen Raum und probieren neue Formen des Zusammenseins: Online wird nun gelernt, Kultur geteilt, sich sozial verabredet, konferiert, ….

 

3. Vermutungen über die Bedeutung des jetzige Zustands für beteiligungsorientierte Kunstformate

Bedeutet diese Situation ein Ende oder Pause der künstlerischen Praxis, die im sozialen Raum stattfindet? Gibt es keinen sozialen Raum mehr? Ich behaupte: Den gibt es sehr wohl, aber der gestaltet sich auf unbestimmte Zeit anders.

Für mich als Künstlerin fühlt dieser Gesamtzustand wie Kunstmachen: Oft kenne ich den Raum nicht, wenn ich in einen Kontext geladen werde. Keine gewohnten Mechanismen oder Routinen passen oder können angewendet werden. Keine Routine greift. Ich muss mich der Situation und dem Zustand ganz öffnen, hinein kapitulieren sozusagen und genau schauen, was ich dort vorfinde. Wie beim Kunstmachen hilft es, die Angst vor diesem Unbekannten beiseite zu parken und sich dem Fremden in einer Haltung von Offenheit und Neugierde zuzuwenden.

Ich stelle also fest: Wir sind alle (noch) da und wir haben Möglichkeiten uns zu begegnen. Menschen in Raum und Zeit, genau das benötige ich für meine Form von künstlerischen Engagement, welche ja unter allen Umständen die Qualitäten des Zusammenseins befragt und erforscht.

Geübt in der oben beschriebenen Haltung, statt Angst meine Neugierde regieren zu lassen, habe ich mich in Woche 1 mit zunehmender Begeisterung dem gewidmet, was ich sonst weitestgehend vermeide: Mediale Begegnungen mit Menschen. Ich nutzte das bisher nur, wenn ich musste. Als ortsunabhängig arbeitende Person spreche ich oft mit Menschen via Skype. So fand mein Erstkontakt mit der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft via Skype statt, da ich 2014 in Kuala Lumpur arbeitete. Es gab zwar keine Körper-im-Raumbegegnung, aber trotzdem vermittelte sich gegenseitige Sympathie und Interesse.

 

4. Begegnungsqualitäten verändern sich

Was macht eine „echte“ Begegnung wertvoll? Warum vermittelt eine Online Verabredung oft das Gefühl eines lästigen Extras neben dem realen Leben?

Begegnungen werden oft von Menschen gestaltet oder inszeniert: Man trifft sich gerne an bestimmten Orten, denen man bestimmte atmosphärische Qualitäten zuschreibt. Man umarmt, sieht und riecht sich; es entsteht ein sinnliches Gesamtbild des Gegenübers. Meist liegt eine Wegstrecke zum Treffen und auch wieder weg, sodass eine Art Transit erlebt wird, von manchen mit Ritualen belegt (sich einlesen oder eindenken, gedankliche Reflexion betreiben,…). Begegnungen beginnen und enden meist mit einleitendem und ausleitendem Geplauder.  Es gäbe noch viele andere Aspekte, die eine gelungene Begegnung ausmachen. Die Meisten gelten ebenfalls für eine Einladung in einen künstlerischen Raum, der Menschen aktiv mit einbezieht.

 

5. Talking im Netz

Nun sitzen wir also im virtuellen Raum und es scheint sich vornehmlich alles über Sprache auszudrücken: Vor Kameras und Bildschirmen sitzend, sprechen wir ungemein viel miteinander, in Gruppen oder zu zweit. Worte scheinen der wichtigste Verbindungsfaden untereinander zu sein.

Aber sofort beobachte ich andere Mechanismen: Wir sehen auf einmal die realen Räume, in denen das Gegenüber sitzt. Die sind meist nicht neutral und erzählen Geschichten. Im Hintergrund kommen und gehen Personen; das Mirko überträgt Geräusche. Wir sehen uns beim Sprechen auf einmal die ganze Zeit selber. Und beim Zuhören. Die technischen Kapazitäten spielen in unseren Gesprächen kreativ mit: Verzerrungen, Verzögerungen, Echos. Rauschen als die Summe aller Töne. Abrupte Abbrüche, Neustarts.

Auch habe ich in der 1. Woche viel gelernt über die erweiterten Möglichkeiten dieser Art von Begegnung: Es lohnt sich, Disziplin walten zu lassen in der Länge des Gesprächs und der eigenen Wortbeiträge. Wir ermüden alle schneller. Zeit und Länge spielen also eine Rolle. Es ist wichtig, das größere Treffen moderiert werden. Nacheinander sprechen ist eine Grundvoraussetzung um überhaupt miteinander etwas machen zu können. All das kann umgekehrt auch zum künstlerischen Stilmittel werden: Man stelle sich ein paralleles Sprechen von 15 Leuten über 24 h vor! Oder heftiges Streiten zu 20 Personen!!!

 

6. Körperlichkeit im Netz

Die Körper können erstaunlich viel auch medial miteinander machen und transmitten. So habe ich interessante Momente mit Gefühlen des Verbundenseins erlebt durch körperliche Experimente wie Spiegelbewegungen, Rollentausch und Verkörperung von Rollen, durch Improvisationen im Raum mit medialen Zuschauer*innen.

Raum ist interessant: Da ist der Körperraum, der Raum in dem ich sitze, der Außenraum vor dem Fenster und der virtuelle Raum. Alle vier, neben dem Zeitraum, spielen eine Rolle und haben eine soziale Realität. Dank der Beschränkung bemerke ich das.

 

7. Neues Spielen mit und aus der körperlichen Distanz

Wir, vier Kolleginnen, nutzten diese Woche für ästhetische Experimente: Wir nehmen auf, was wir hören auf Spaziergängen und schicken die andere mit diesem Sound im Ohr auf ihre eigenen Spaziergänge. Wir erzählen uns, was wir sehen. Wir überlegen, ob wir uns verabreden, uns an Orten zeitversetzt verabreden könnten, um dort dann eine hinterlegte Anweisung zu erhalten und diese „gemeinsam“ auszuführen. Wir schicken uns per Post Material zu, um etwas Bestimmtes damit zu tun. Wir tauschen uns darüber aus. Viel Spaß hat es bisher erzeugt und die Ideen sprühen. Es kommen Rückmeldungen zu dem Lächeln beim Spazieren, was wiederum Lächeln bei Passant*innen auslöste….

 

Foto: Susanne Bosch

Es geht also was. Es geht viel. Total anders, aber es geht. Andere Sinne in mir werden wach und geschult, ich bemerke ungeheuer viele Dinge. Vieles erfreut mich ungemein und bereichert mich. Die Imagination ist auf einmal möglich mit vielen. Anderes, ungewohntes Tun ist möglich. Routinen sind unterbrochen, also sind auf einmal so viele in diesem Künstlerischen Zustand von Erforschen des Unbekanntem. Und sofort formiert und organisiert sich die Kultur, die wir lieben, suchen und benötigen: Seit Woche 1 gibt es nun Tanzen über zoom, wo alle sich zuhause dieser Tätigkeit widmen und ein DJ in einem leeren Club auflegt.  Es werden Konzerte vom Wohnzimmer aus auf Instragram gestreamt sowie Lesungen veranstaltet. Berlin hat sofort eine interaktive Sammelplattform für kulturelle Angebote eingerichtet: Berlin (a)live. Erste künstlerische Bekleidungsobjekte, die 1,5 m Abstand benötigen, tauchen auf.

Ein Literaturbarcamp am Samstagabend mit Freund*innen war ein bewegendes gegenseitiges Vorlesen der „My favorite First Page“. In Italien haben sie das Singen von den Balkonen und das Applaudieren entwickelt. Entscheidend für unser Feld sind die Angebote und Einladungen, die andere aus dem Konsumieren ins Teilnehmen,- geben und -haben bringen. Auch ohne Körper an Körper zu sein.

 

Foto: Susanne Bosch

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