Der bildende Künstler Frank Bölter lebt nun seit einem Jahr im Rahmen des Projektes „Public Residence: Die Chance“ in Dortmund am Borsigplatz. Teresa Grünhage hat ihn getroffen und mit ihm über das Leben am Borsigplatz, über seine Projekte und Visionen gesprochen. Das Interview fand am 6. Mai 2015 statt.
Frank, du hast dich damals für „Public Residence“ mit einem Konzept für deine künstlerische Arbeit vor Ort beworben. Warum hast du dich beworben und mit welcher Idee?
Ich habe mich damals beworben, weil mich mindestens 50 Personen darauf hingewiesen haben, dass es das Projekt „Public Residence“ gibt, bei dem es um die Involvierung von Öffentlichkeit in Kunst gehen sollte. Ich habe dann irgendwann gedacht, ok, wenn ich schon von so vielen Menschen darauf aufmerksam gemacht werde, dann bewerbe ich mich einfach mal. Beworben habe ich mich dann mit der Idee, eine Bühne aus Beton auf dem Borsigplatz zu bauen.
Wie bist du zu dieser Idee gekommen?
Ich habe schon einmal zwei Jahre in Dortmund gelebt und erinnerte mich daran, dass der Borsigplatz zwar das Herz des Viertels ist, aber dieses Herz nicht schlägt. Niemand geht auf diesen zentralen Platz, was ja auch verkehrstechnisch gar nicht möglich ist. Der Platz ist eine wunderschöne kreisrunde Wiese, auf der man gerne mal einen Liegestuhl aufstellen würde, aber man darf es nicht und es ist auch zu gefährlich, da sie ein Kreisverkehr ist, der von einer Straßenbahnlinie geteilt wird. Der Platz strahlt eine Hektik aus, aber keine Ruhe, die man hier in dem Viertel brauchen könnte. Ich glaube aber, dass sich die Öffentlichkeit teilweise gar nicht darüber bewusst ist, dass das Herz des Viertels nicht schlägt. Oder sie findet sich auch einfach damit ab. Hier gibt es eine Starre im Viertel. Einerseits sind da die Menschen, die alles haben und auch alles so lassen wollen, wie es ist. Anderseits gibt es eine Starre der Leute, die hier „hingespült“ werden und nichts haben. Es gibt hier viele Gemeinsamkeiten bei den Menschen. Aber um das herauszufinden, muss man in Kommunikation treten.
Vor einem Jahr kam dann der Startschuss und du bist als Künstler an den Borsigplatz gezogen. Wie bist du deine Idee angegangen?
Als ich hierhergekommen bin, hätte ich am liebsten sofort losgelegt. Mir wurde dann aber vom Verein Borsig11 gesagt, dass meine Idee nicht einfach umzusetzen sei. Ich habe mich dann an die Stadt gewandt, die mir aber auch unmissverständlich zu verstehen gab, dass es nicht möglich sei, eine Betonbühne auf dem Borsigplatz zu errichten. Ich habe das Ganze als eine Art Zensur verstanden.
Wie bist du mit der Situation umgegangen? Gab es dann einen neuen Plan?
Es finden nun kleinere Projekte auf dem Borsigplatz statt. Ganz am Anfang meiner Zeit habe ich zum Beispiel mit Anwohnern ein großes Haus aus Papier gefaltet und das dann auf den Platz gestellt. Wir haben also den Platz besetzt mit einem Haus und damit auch auf das Problem des Platzes aufmerksam gemacht. Aber leider verpufft die Wirkung solcher Aktionen auch wieder sehr schnell.
Und wie kamst du dazu, mit Papier zu arbeiten?
Ich lade gerne Leute ein, mit mir überlebensgroße Papierobjekte zu falten. Das können Schiffe, Häuser, Autos sein. Hier haben wir Häuser und Autos gefaltet.
Ich arbeite mit Papier, weil Papier als Material sehr erschwinglich ist. Einer der anderen Gründe ist: Jeder kann falten. Das heißt, man braucht keine großartige künstlerische Vorbildung, sondern nur eine Faltanleitung und den Mut, diese Idee in einer ungewohnten Größe umzusetzen, in der Überlebensgröße. Das Schöne daran ist, dass man in dem Unglauben, dass so etwas in dieser Größe möglich ist, eigentlich jeden Menschen dazu motivieren kann, mitzumachen. Und wenn man hier am Borsigplatz einen Impuls gibt, dann reagieren die Leute auch sehr schnell.
Wie lässt du die Menschen an deiner Arbeit teilhaben?
Bei den Faltaktionen habe ich einfach begonnen, Papier auszulegen und schon kamen die Nachbarn aus ihren Häusern und haben gefragt, was denn hier passiere. Ich habe das dann kurz erklärt und bei jeder Aktion gab es mindestens zehn Menschen ganz verschiedenen Alters, die spontan mitgemacht haben. Die Menschen hier zusammenzubringen, ist also möglich. Und dann brechen für diesen Moment lang auch die sozialen und politischen Unterschiede weg. Mir zeigt das, dass man hier eigentlich eine permanente Struktur schaffen müsste, bei der solche Aktionen und Begegnungen regelmäßig da sind.
Eine andere Aktion, die Begegnung und Teilhabe ermöglicht hat, war das Bierbrauen am kleinen Borsigplatz. Die Idee entstand ein wenig auch aus der Frustration heraus, dass auf dem großen Borsigplatz nichts passiert. Ich habe in der Zeit hier ein paar Monate am kleinen Borsigplatz gewohnt und dort tagtäglich die Leute gesehen, die sich zum Trinken treffen und den Tag gemeinsam verbringen. Der kleine Borsigplatz scheint von den Nachbarn als idealen Treffpunkt entdeckt worden zu sein. Ich habe mich dann einfach dazu gesetzt, mir auch ein Bier geholt und bin mit den Leuten ins Gespräch gekommen. Es ging darum, dass alle nur Hansa Export trinken, da es nur 32 Cent koste und das nächst teurere Bier 48 Cent koste und das zu teuer sei. Ich dachte mir, okay, vielleicht wird’s noch günstiger, wenn wir unser eigenes Bier brauen und habe mir dann alle Zutaten von einer Brauerei hier in Dortmund geholt. Die Gerste wurde mir sogar geschenkt. Wir haben dann versucht, ein Bier zu brauen, das vom Geschmack nahe an dem des Hansa Bieres ist. Quasi eine Untergrundaktion, um die ganzen reichen Konzerne nicht noch weiter zu bereichern. Das hat ganz gut funktioniert. Es kamen immer mehr Menschen dazu und wir haben den ganzen Tag in einem großen Bottich herumgerührt. Das bekommt etwas sehr Besinnliches.
Einmal standen wir um den Topf herum und etwas entfernt auf einer Bank saß ein Mann, der südeuropäisch aussah und die ganze Zeit herüberschaute. Er hatte einen Flachmann in der Hand und eine Dose Hansa Export neben sich stehen. Nach einer Stunde dachte ich mir, ich gehe mal hin und frage, ob er nicht zu uns kommen möchte. Aber er verstand mich nicht. Ich habe es auf allen Sprachen, die ich sprechen kann, erfolglos versucht. Irgendwann sagte er nur „Bulgaria“. Ich habe versucht, mit Gesten deutlich zu machen, dass er eingeladen sei, aber er wollte dort sitzen bleiben. Eine Stunde später stand er plötzlich doch unter uns und alle Anderen haben ihm dann versucht zu erklären, was wir da tun. Er verstand uns nicht. Plötzlich brachte er das Wort „Musik“ hervor. Er öffnete seinen Kragen und fing an zu singen. Er brachte eine bulgarische Folklore zum Besten in einer Qualität, die uns in die Knie gehen ließ. Das war so herzergreifend und hat gezeigt, dass jeder, der dort am Borsigplatz steht, wunderbare Dinge kann. Und deshalb sind die Aktionen am Borsigplatz so wichtig: um eine Atmosphäre zu schaffen, die einen Zugang zum Herzen der Menschen schafft. Hier gab es nun plötzlich eine Gemeinschaft der Zuhörer für den Sänger. Ich habe festgestellt, dass bei dieser Bierbrau-Aktion so etwas öfters passiert und so habe ich das Bierbrauen noch einige Male angeboten. Mir geht es darum, verschiedene Impulse zu setzen, damit sich die Leute ihrer Qualitäten bewusst werden und dafür auch geschätzt werden.
Und das wurde auch so von den Anwohnern verstanden?
Die Anwohner, die sich auf dem kleinen Borsigplatz treffen, haben sehr unterschiedlich reagiert. Von Wut bis Liebesbekundungen war alles dabei. Ich steige bei ihnen ja quasi in das Wohnzimmer. Sie sitzen dort gemütlich zusammen und auf einmal komme ich, hänge Plakate auf und animiere dazu, mitzumachen. Es gibt also auch Leute, die an diesen Tagen extra nicht kommen, weil es ja eigentlich ihr Platz ist und ich dort plötzlich als ein Fremdkörper erscheine. Andere schauen zunächst aus der Ferne zu und kommen dann nach einer Weile dazu.
Dann gab es aber natürlich auch viele Gegenstimmen von anderen Anwohnern, die die Aktion als Animation zum gemeinschaftlichen Trinken verstanden haben. Es kam zum Beispiel auch ein Lokalpolitiker vorbei, um sich zu beschweren, und meinte, ich könne doch nicht die Leute zum Trinken animieren. Ich habe entgegnet, dass ich das gar nicht bräuchte, da sie das sowieso täten und es hier um etwas ganz Anderes ginge. Bei der Aktion geht es mir darum, dass sich die Teilnehmer ein Stück weit die Eigenverantwortung über die eigene Person zurückholen. Etwas selber können, stärkt das Selbstbewusstsein und macht unabhängiger.
Natürlich war mir klar, dass es viele Menschen geben wird, die diese Aktion missverstehen werden. Das ist die Strategie der Künstler: Mache Dinge falsch und provoziere, damit die Leute kommen, die sonst vielleicht nicht kommen. Und der Politiker hat im Gespräch nachher zugegeben, dass er noch nie vorher hierhergekommen sei.
Mit dem Projekt „Public Residence“ wurde die Kunstwährung „Chancen“ am Borsigplatz eingeführt. Wie gehst du mit den „Chancen“ bei deinen Aktionen um und was sind diese „Chancen“ für dich?
Die Chancen interessieren mich eigentlich gar nicht. Ganz am Anfang habe ich festgestellt, dass das Ganze nicht funktionieren kann. Die Energie dieser Idee ist eine andere als die der Kunst. Bei mir kann ich sagen: Meine Arbeit hier ist eine Herzensangelegenheit. Mit meinen Aktionen lege ich meinen Arm um die Schulter eines Anderen. Die Chancen aber kommen aus dem Kopf. Ein denkerisches Konzept, mit dem man hier viele Leute eher kontraproduktiv erreicht.
Ob ich für meine Aktionen nun eine Kunstwährung bekomme oder nicht, ist mir ziemlich egal. Wenn es dann darum geht, dass man jedes Mal über die Kunst die Implementierung einer neuen Lokalwährung den Anwohnern erklären muss, die schon genug Probleme damit haben, ihr Geld zusammenzuhalten, dann passt das einfach nicht zusammen. Ein Flüchtling, der hier ankommt und hier lebt, hat ganz andere Probleme. Ein anderes Problem ist der Versuch der Demokratisierung der Kunst, der hinter diesem Konzept steht. Kunst ist ein rein individuelles Gut, der einzige Freiraum, den die ökonomische Gesellschaft und der Kapitalismus den einzelnen Individuen lassen. Um wichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu erreichen, braucht es einzelne Querköpfe.
Hast du einen Zukunftstraum für den Borsigplatz?
Meine Hoffnung ist, dass weiter Bier gebraut wird. Und ich glaube, dass das sogar realistisch ist. Was hier gut funktioniert, ist, wenn man ein Angebot auf der Straße macht und die Menschen da en passant hineingeraten. Die Menschen hier sind sehr offen für diese Impulse. Aber wenn eine Aktion dann vorbei ist, gehen sie nach Hause. Ich habe leider nicht das Gefühl, dass hier schon etwas nachhaltig verändert wurde. Es wird sich noch nicht selbst tragen. Da müsste man länger dranbleiben und da müsste auch erst einmal begriffen werden, dass der Borsigplatz als Herz des Quartiers umgebaut werden muss. Es müsste eine Verkehrsumgehung her und der Platz würde sofort blühen und gedeihen. Es würden Cafés entstehen und das Tempo der Menschen würde sich ändern. Sie würden verweilen. Als Künstler kann man aber nur darauf hinweisen. Und das haben wir Künstler durch verschiedene Aktionen getan. Nun steht der nächste Schritt an: das Herz des Quartiers dauerhaft schlagen zu lassen. Ich bin eigentlich ein Gegner von Manifesten, aber hier würde es Sinn machen. Hier ist das Problem so zentral und überdeutlich, dass man den Platz anders besetzen sollte. Aber man muss ihn dafür freigeben. Es müsste nur die Funktion der großen grünen Verkehrsinsel geändert werden, dann würde es sich von selbst hier wiederbeleben.
Und vielleicht klappt es ja noch, dass ich meine letzte Idee hier umsetzen kann: die exemplarische Belebung des Platzes mit einer Herde Schafe. Ein Impuls der Entschleunigung. Die Dinge auf den Platz zu bringen, hat die richtige Strahlkraft und löst Impulse und neue Ideen aus.
Frank, herzlichen Dank für das Gespräch!
Foto (oben): Knut Vahlensieck