Welchen Platz wollen wir geflohenen Menschen in unserer Gesellschaft einräumen? Der Künstler Frank Bölter errichtete im Jahr 2014 auf dem Vorplatz der Kirche le Beguinage in Brüssel gemeinsam mit Geflüchteten das OrigamiRefugeeCampBrussels. Kunst als Mittel zur Sichtbarmachung akuter politischer Fragestellungen? Ein Protokoll von Frank Bölter.
‚RefugeeOrigamiCampBrussels’ ist der öffentliche Bau eines Flüchtlingscamps aus Papier durch die Überdimensionierung des mit dokumentierten und nicht dokumentierten Flüchtlingen in der kunsthandwerklichen Technik des Origami gefalteten Modells „Haus“ sowie die Platzierung und Besetzung des lebensgroßen Modells im öffentlichen Raum im Zentrum der „Festung Europa“. Der ‚formalen Überdimensionierung’ der Origami-technischen Attribute des Kleinformatigen, der Zurückhaltung und der Kontemplation des gefalteten Objekts aus dem Reich des Hobbys entspricht die Ausdehnung der Rolle der Kunst als Mittel zur Sichtbarmachung akuter soziopolitischer Fragestellungen. ‚OrigamiRefugeeCampBrussels’ stellt die Frage an politische Vertreter und Bürger, welchen Platz wir Flüchtlingen in der Mitte unserer Gesellschaft auf zentralen Plätzen der Hauptstadt der Europäischen Union einräumen wollen.
PROTOKOLL
18. August 2014: Die Begegnung
15 Uhr Treffen mit Flüchtlingen im Cifas Institut in Brüssel zur Vorbereitung des Projektes ‚OrigamiRefugeeCampBrussels’. 17 überwiegend kongolesische Migranten aus Brüssel und Umgebung sind gekommen. Am Tisch bestimmt eine Mischung aus leichter! Anspannung, Unsicherheit und Zweifel die Gespräche. Als Wayaba, ein ehemaliger Flüchtling und in der Integrationsarbeit sehr erfahren, eintrifft, wird versucht, Intentionen und mögliche Verläufe des Projekts zu erläutern. Das Anliegen, anhand eines bewohnten Papierhauscamps die Gesellschaft zur Änderung ihrer Haltung im Umgang mit Flüchtlingen zu bewegen, scheint aufgrund der schwierigen persönlichen Situation nur schwer nachvollziehbar – die individuelle Notlage ist wohl zu groß. Es muss daher zunächst über Verpflegung und Übernachtungsmöglichkeiten während der Projektlaufzeit verhandelt werden, bevor das Vertrauen gewonnen ist, über die Grundbedürfnisse hinausgehende Inhalte und Perspektiven des Projektes besprechen zu können.
17 Uhr Zweites Treffen mit einer Gruppe von Flüchtlingen aus Brüssel. Omar, Samba, Ibrahim und Anton treffen ein. Samba, Ibrahim und Anton sind Vertreter einer Gruppe von 147 illegal in Brüssel lebenden Flüchtlingen, die ein Haus im Zentrum von Brüssel besetzt haben und sich politisch für die Belange von Flüchtlingen engagieren. Es entsteht sofort ein Gespräch über Protestkulturen, deren Wirksamkeiten und Impulse für eine Erneuerung dieser.
18 Uhr Besichtigung der Kirche St. Jean Baptiste au Beguinage, in der Pfarrer Daniel Alliet illegal illegale Flüchtlinge beherbergt. Er hat sich mit dieser Form der Mildtätigkeit heftige Auseinandersetzungen mit dem Vatikan eingehandelt, wird aber von einer Gruppe von Helfern in Brüssel unterstützt. So wird oft Kleidung und Nahrung von Brüsseler Bürgern gebracht. Man verabredet ein ‚OrigamiRefugeeCampBrussels´ auf dem Vorplatz der Kirche le Beguinage ab dem 27.08.2014
27. August 2014: Das Haus des Lebens
Nach herzlicher Begrüßung, einem Getränk und ein paar einführenden Worten wird ein kleines Modell eines Papierhauses exemplarisch gefaltet. Es werden bereits die ersten Papierbahnen geklebt. Songul, Ambroisine und Felis nehmen das in die Hand. Samba, Omar, Ibrahim und Anton erweisen sich als besonders engagiert und handwerklich versiert. Anton stellt sich als diplomierter Ingenieur vor, der illegal in Brüssel im besetzten Haus lebt: „Alles ist besser als zurück nach Mali!“. Er möchte nicht weiter darüber sprechen, erklärt aber auf Nachfrage, dass seine Situation dort schlimmer als alles gewesen sei, was je ein Europäer erlebt haben könne. Er zittert beim Erzählen. Er berichtet dann doch von seiner Flucht und erklärt, er habe die Wahl gehabt, für Al Quaida zu töten oder mit einem hochseeuntauglichen Boot zu versuchen, lebend nach Europa zu kommen. Beim Speisen werden die unterschiedlichen Wirklichkeiten beschrieben und Lebenserfahrungen ausgetauscht. Man sei einerseits froh, bei einem solchen Projekt mitarbeiten zu können. Andererseits glaube man nicht daran, dass sich dadurch politisch oder persönlich etwas ändere. Immerhin sei man ausnahmsweise für. Ein paar Tage verpflegt, versorgt und hätte ein Dach über dem Kopf.
28. August 2014: Das ungerade Haus
Nachdem das erste Papierhaus gefaltet, aufgestellt und der erste Regenguss auf das fragile Objekt niedergegangen ist, erweist sich das als Unterkonstruktion gedachte Plastikrohrstecksystem als zu instabil für so viel Gewicht an gefaltetem Papier, so die kritischen Kommentare vorbei flanierender Passanten. In Gesprächen mit den Brüsseler Bürgern wird erläutert, dass es exakt um die Veranschaulichung eines völlig instabilen Daseins und der Fragilität des Lebens an sich gehe, dass das Leben eines Flüchtlings doch so stark von den stabilen europäischen Lebensumständen unterscheide. Daher müssten die Papierhäuser krumm und schief aussehen. Tatsächlich ächzt das Gerüst unter dem Ballast der schweren, inzwischen durchnässten Papierbahnen. Man rät trotzdem, man solle Holz oder Metall als Material für die Unterkonstruktion verwenden. Ambroisine kommt und erklärt, sie wäre öfter froh gewesen, wenn ihr ein solches Haus als Unterschlupf zur Verfügung gestanden hätte, als ich mir vorstellen könne.
29. August 2014: Was ist ‚OrigamiRefugeeCampBrussels’?
Der Institutsleiter von Cifas, Benoît R., kommt zum Platz vor der Kirche St. Jean Baptiste au Beguinage und erkundigt sich nach dem Verlauf des Workshops: „Was geht hier vor?“ Er wird begrüßt von Omar und Samba, die sich bei ihm für die Teilnahme am Projekt bedanken und erklären, wie treffend das Antlitz der krummen und schiefen Papierhäuser mit dem Schicksal ihrer Lebenssituation korrespondiere. Darauf wendet sich Benoît R. an mich, um mir zu erklären, dass die Papierhäuser doch hoffentlich noch begradigt werden würden, heute Abend sei schließlich die Eröffnung des Camps und das Publikum erwarte natürlich etwas. Ich erkläre, meine Erwartungen seien bereits übertroffen worden, denn jeder europäische Teilnehmer an diesem Projekt hätte bereits aufgegeben wegen der schier unlösbaren Aufgabe, Papierhäuser im Dauerregen von Brüssel zu falten und aufzustellen unter der Bedingung, eine völlig instabile Trägerkonstruktion für so viel Gewicht von etlichen Schichten Papier zu verwenden. Und genau das könnten wir Europäer schließlich von Flüchtlingen lernen: Niemals aufgeben. Und exakt dieses würde durch ‚OrigamiRefugeeCampBrussel’ präzise auf den Punkt gebracht. Benoît R. bemerkt, dass er genau wie jeder andere Ausstellungsbesucher, den er kenne, stabile und bewohnbare Papierhäuser erwarte. So sei es doch abgesprochen gewesen? Ich erwiderte, meine Aufgabe als Künstler sei es sicherlich nicht, bestimmte Erwartungen zu erfüllen. „Sei das Unterlaufen dieser nicht wesentlich interessanter?“, wird von einigen Teilnehmern zu bedenken gegeben, um anschließend mit der praktischen Arbeit am Camp fortzufahren.
30. August 2014: Eröffnung und Schließung von ‚OrgamiRefugeeCampBrussels’
Um 18 Uhr kommen die ersten Ausstellungsbesucher zum ‚OrigamiRefugeeg! CampBrussels’ und werden von den das Camp bewohnenden Flüchtlingen ermutigt mit ihnen weitere Papierhäuser zu falten und aufzustellen. Einige folgen der Einladung und helfen mit, andere diskutieren über die „formalen Unzulänglichkeiten“ des Camps. Um 19.12 Uhr erscheinen zwei Polizeiwagen auf dem Vorplatz des Camps. Fluchtartig verlassen die 12 illegalen der insgesamt 15 an der Errichtung des Flüchtlingscamp beteiligten Flüchtlinge den Platz. Nur Samba, Ibrahim, Anton und Omar kommen zurück, nachdem die Polizei unter der Bedingung, dass das Camp bis morgen Abend geräumt und abgebaut wird, verschwunden ist. Es seien zu viele Beschwerden der Anwohner eingegangen.
31. August 2014: Abbau
Abbau des ‚OrigamiRefuggeCampsBrussels‘. Einige der in ‚le Beguinage‘ untergebrachten Flüchtlinge fragen nach einer Wiederverwendung von Papier und Plastikrohren. Sie möchten sich damit eigene Papierhäuser bauen.
31. August 2014, 17 Uhr: Symposium ‚OrigamiRefugeeCampBrussels’ im Cifas Institut mit Künstlern, EU-Abgeordneten und Kuratoren
Nach einem Bericht über die Ereignisse im ‚OrigamiRefugeeCampBrussels‘ stellt das Publikum die Frage, ob der Künstler denn zufrieden sein könne mit dem ästhetischen Resultat des Projektes, oder sei nicht vielmehr ein Scheitern an der Aufgabenstellung der Errichtung eines stabilen Flüchtlingscamps zu beobachten gewesen? Ich erkläre, auch das ästhetische Resultat könne man anhand des unter dem Eigengewicht zugrunde gehenden Begriffs der „Freiheit“, wie auf einem der Falthäuser zu sehen, überprüfen. Nach meiner Ansicht entspräche das präzise auch ästhetischen Ansprüchen der Kunst, da es bei dieser Kopie der Wirklichkeit um die Veranschaulichung der Lebensumstände von Flüchtlingen gehe und eben nicht um die Erfüllung gewohnter ästhetischer wie gesellschaftspolitischer Ansprüche eines europäischen Publikums. Zudem sei eher eine Infragestellung bestehender ästhetischer Parameter zugunsten einer Öffnung für die Wahrnehmung von Lebensumständen, die wir verantwortlich mitgestalten und unter denen andere Menschen zu leiden hätten, das Potential dieses Projektes. Bestimmte ästhetische Erwartungshaltungen erschwerten genauso einen offenen Dialog und eine echte Begegnung mit anderen Kulturen wie politische Gesetze, Regeln und Verordnungen und seien nur ein Mechanismus der Verhinderung und Verdrängung. Im Übrigen fände auch auf diesem Symposium der gefährliche Prozess der Verdrängung statt. Die Kritik an instabilen Papierhäusern könne man durchaus als Miss- oder Verachtung anderer Menschen, ihrer Werte und ihrer Kulturen bewerten, sie zeige ein künstliches Bedeutungsgefälle und sei wahrscheinlich anmaßend. Dieses Symposium offenbare die Schwierigkeiten einer Begegnung mit dem Fremden auf Augenhöhe und zeige die Versuche, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Nach einigen Momenten der Stille fragt jemand aus dem Publikum, wer denn eigentlich dieses Projekt finanziert habe. Darauf antwortet niemand. Nach dem Symposium erklärt Benoît R. erneut seine Unzufriedenheit mit dem Verlauf des Projektes und antwortet auf die Frage, wer denn das ‚OrigamiRefugeeCampsBrussels“ finanziert habe: „Die Europäische Union“.
19. September 2014: Workshop ‚OrigamiRefugeeCampBrussels‘ in le Petit Château
Im Asylbewerberheim ‚le petit château’ findet der zweite Workshop zur Errichtung eines Flüchtlingscamps aus nach Origami Anleitung gefalteten Papierhäusern statt. 13 Flüchtlinge haben sich bereit erklärt, am Bau des Camps im Innenhof mitzuarbeiten. Nach Gesprächen über Sinn und Zweck des Camps wird die Frage von dem syrischen Kriegsflüchtling Achmad gestellt, ob man die Häuser auch mit Botschaften versehen könne und diese nicht anschließend auf dem durch Brüssel fließenden Abwasserkanal „Senne“ deportiert werden könnten? Das entspräche doch exakt der Lage aller Menschen hier im Lager, die auf ihre Abschiebung warteten. Für diesen Zweck würde er allerdings unschuldig weiße Papierhäuser in kleinerer Größe bevorzugen, da diese den Weg durch die Innenstadt äußerlich unbeschadet überstehen sollten. Schnell sind die ersten Papierflächen hergestellt und die ersten Häuser aufgestellt. Einige Flüchtlinge haben sich Spraydosen und Wachsmalstifte besorgt und beschriften die Häuser mit Botschaften, Fragen und Mitteilungen an die europäische Öffentlichkeit. Achmad erklärt, es gehe ihm darum, die Gelegenheit zu nutzen, die europäische Bevölkerung zu fragen, welchen Platz sie Flüchtlingen in ihrer Gesellschaft einräumen wollen. Er führt weiter aus, er selbst habe seine gesamte Familie im Krieg in Syrien verloren. Europa sei seine einzige Rettung gewesen. Er erwarte allerdings seine Abschiebung, da seinem Eindruck nach, nur etwa 1% der Asylanträge bewilligt werde.
21. September 2014: Demonstration in Brüssel
Marsch von Flüchtlingen, ihre Papierhäuser schulternd, durch die Innenstadt von Brüssel zum Abwasserkanal ‚La Senne,‘ der Brüssel durchquert. Begleitet wird die Prozession von etlichen Pressevertretern und einem RTL Kamerateam, das die am Camp beteiligten Flüchtlinge, die verantwortlichen Kuratoren des KAAI-Theaters und die Betreiber des Flüchtlingsheims ‚fedasil‘ interviewt.
Um 15 Uhr werden die beschrifteten Papierhäuser auf das Wasser der Senne gesetzt, abgeschoben und ins Ungewisse deportiert…
Foto oben: Frank Bölter © VG Bild-Kunst, Bonn 2016