Das Thema des diesjährigen Summer Camps „Perspektive Umbruch – Vom Wert der Arbeit“ lässt die Teilnehmenden auch im Nachhinein nicht los. Die Teilnehmerin Aude Bertrand bietet hier im Anschluss an ihren Beitrag „Spurensicherung – Auf der Suche nach Arbeit in der Kunst“ eine weitere theoretische Reflexion über künstlerische Tätigkeit und ihren Wert für die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt.
„Work has changed and taken the semblance of art. Instead of being a specific and limited activity, it has become an uncertain category and a precarious experience.“
Lars Bang Larsen, Work Work Work
Die künstlerische Tätigkeit erlebte in den letzten 30 Jahren eine beachtliche Aufwertung in unserer Gesellschaft. Zwar waren der Genie- oder der Bohème-Künstler als Ausnahmefiguren des (späten) XVIII. respektive (späten) XIX. Jahrhunderts ein Faszinosum und bereits in der Renaissance arbeitete sich der Künstler vom Handwerker zum „Künstlerfürst“ hoch. Aber gerade in der Frühindustrialisierung blieben Künstler eine Randgruppe, ob aus eigener Überzeugung, aus Sicht der blühenden Wirtschaft oder auch in der Soziologie. Der Soziologe Emile Durkheim sah in dem Kunstschaffen keinen Beruf, keine Arbeit, die sich als Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einfügen und der Kollektivität dienlich sein konnte. Im Gegenteil konnte sie zu Selbst-Bezug, Nutzlosigkeit und sozialer Dysfunktion, also zur Anom(al)ie führen. Hierbei kann die Pendelbewegung zwischen Autonomie und Entgrenzung als ein Charakteristikum der Kunst in der Moderne gesehen werden (oder mit Rancière: im ästhetischen Regime der Kunst), was wiederum bedeutet, dass Kunst sich der immer aufs Neue selbstdefinierten Normen und Regeln stets wieder entzieht.
Interessant ist in dieser Hinsicht die zentrale, modellhafte Rolle, die nicht der Kunst an sich oder dem Künstlerdasein, sondern der künstlerisch-kreativen Arbeit heute zugeteilt wird. Das semantische Glissando vom Kunstwerk zur künstlerischen Arbeit, vom Schöpfungsakt zum Projekt oder vom Moment der Inspiration zum offenen Prozess wäre allein einer Vertiefung wert. Dass ausgerechnet diese unkonventionelle, ungeregelte Nicht-Arbeit innerhalb nur einer Generation zur Blaupause für Arbeit mutieren konnte, ist paradox.
Dass künstlerische Arbeit in unserer Gesellschaft einen besonders hohen (wirtschaftlichen) Stellenwert bekommt, wird durch zahlreiche Thesen belegt, die Kunst als eine wirtschaftliche Avant-Garde betrachten (Groys), die Künstlerkritik als Motor des Kapitalismus sehen (Boltanski/Chiapello) oder gar die Geburt eines „Künstlerkapitalismus“ resp. „ästhetischen Kapitalismus“ diagnostizieren (Lipovetsky/Seroy resp. Böhme). Aus makroskopischer Perspektive bekommt unsere kapitalistisch geprägte post-industrielle Gesellschaft ein zweites Leben, einen „neuen Geist“ – der eben durch Leichtigkeit, Spiel, Zauber, immer wiederkehrende Neuheit und Verwunderung gekennzeichnet ist. Pathologisch wird eine durch das „Kreativitätsdispositiv“ (Reckwitz 2012) geprägte Gesellschaft allerdings dann, wenn das erstrebte emanzipatorische Moment der künstlerischen Arbeit aus individueller Perspektive mit hoher Wahrscheinlichkeit in sein Gegenteil auszuarten droht –
Selbst-Verwirklichung / Selbstdarstellung, -vermarktung, -„Verdinglichung“ (Honneth nach Lukacs);
Originalität und Authentizität / Homogenisierung (ausgerechnet der zur Norm, „Skill“ respektive Methode gewordenen Kreativität);
Freiheit / Abhängigkeit (gegenüber Netzwerken, Gruppen, Renommee);
Autonomie / „Projektariat“ (Szreder);
„Kreation / Depression“ (Menke/Rebentisch Hsg.).
Mit anderen Worten: Genau die Pathologien, die in den modern times, zu Zeiten geregelter, fremdbestimmter, entmenschlichter Fabrikarbeit, durch die Künstlerkritik denunziert und bekämpft wurden, breiten sich verstärkt aus; und zwar ab dem Zeitpunkt, wo das Künstlerideal zur Norm einer neuen, selbstbestimmten Arbeitsform wird. Ein „Weiter so“ von Seiten des Systems Kunst kann das Phänomen nur verdeutlichen. Mit Reckwitz: „Die zentrifugale Kunst bleibt Agentin eines schrankenlosen sozialen Regimes des ästhetisch Neuen und seiner Normalisierung des kreativen Selbst.“ (Reckwitz 2012: 132).
Doch war das Spezifikum der Kunst, als noch von Freien Künsten die Rede war, nicht ihr ideelles Selbstverständnis – bezog sie ihre Kraft doch aus einem geistigen Reservoir? Und woraus könnte dieses Reservoir heute bestehen? Eine grobe Parallele zwischen Moderne und Gegenwart lässt folgendes vermuten: In der (Früh)Moderne hatte Kunst einen vorwiegend ideellen Stellenwert, der sich gegen bloße Arbeit konstituierte; und zwar selbst bis in die Industrialisierung, als Arbeit und Verdienst positiv umgedeutet wurden. In der Gegenwart wird Kreativität allgegenwärtig; als Pendant schöpft die Gegenwartskunst einen neuen Eigenwert, der auf einem Arbeitsethos fußt.
Nachdem sich die Kunst vom bloßen Handwerk („Man sieht die erste so an, als ob sie nur als Spiel, d.i. Beschäftigung, die für sich selbst angenehm ist, zweckmäßig ausfallen (gelingen) könne; die zweite so, dass sie als Arbeit, d.i. Beschäftigung, die für sich selbst unangenehm (beschwerlich), und nur durch ihre Wirkung (z.B. den Lohn) anlockend ist, mithin zwangsmäßig auferlegt werden kann“ Kant, Kritik der Urteilskraft, §43, zitiert in Bürge 1983: 105-106) hin zur Wissenschaft mit ihrem Regelwerk hochgearbeitet hatte, wurde der Geniebegriff und die Genie-Ästhetik zum Ende des XVIII. Jahrhunderts vor allem gegen die Regelpoetik etabliert – und mit ihr gegen die sich konstituierende „bürgerliche Gesellschaft als eine vom Prinzip der Zweck-Rationalität geprägte.“ (Bürger 1983: 105).
Für Philosophen und Vertreter einer idealistischen Ästhetik wurde Kunst als arbeits-fremde Geste der Inspiration mystifiziert. Im religiös geprägten Kontext der Arbeit als Fluch, direkte Konsequenz der Ursünde, gilt der gottbegnadete künstlerische Schöpfungsakt als Akt der Inspiration, als freier Akt. Das Genie ist ein Zeichen dafür, dass der Künstler ein Auserwählter ist. Bis in die Moderne bilden Genie, Aura und Kontemplation das Triptychon einer von Ritual und Kult geprägten Kunstwelt. Mit Kant, später mit Marx, kristallisieren sich zwei entgegengesetzte Begriffe der Arbeit heraus: Handwerk und Kunst, „Zwangsarbeit“ und „freie Arbeit“. Nicht Ruhe und Freizeit, sondern die selbstbestimmte Arbeit, Selbstverwirklichung durch Arbeit ohne Zwang, bilden den Gegenentwurf zur Arbeit, wie sie vom Vater des modernen ökonomischen Denkens Adam Smith definiert werden.
Die Normalisierung der Idee freier Arbeit, wie wir sie in jedem heutigen Management-Handbuch (das ist die Grundlage für Boltanskis und Chiapellos Analyse) oder Karriere-Ratgeber lesen können, geht mit der Paradoxie eines (selbstverschuldeten) Leistungszwangs einher. Mit der strukturellen Nicht-Realisierbarkeit eines sich verbreitenden freien Arbeitsmodells in einem exklusiven statt inklusiven Rahmen, in dem nur wenige erfolgreich werden können (ob als talentierte Künstler oder in sonstigen Professionen, zu denen der Autor eine Parallele zieht: etwa Kreativberufen aber auch anderen Professionen, bezeichnenderweise Top-Managern, wo Anerkennung mit der Autorenfrage, also mit dem Individuum, und mit dem medialen wie monetären Verdienst verknüpft ist), hat sich der Kunstsoziologe Pierre-Michel Menger auseinandergesetzt. Sein Fazit: Weder Erfolgsrezepte noch Ausbildungs- oder Talent-Vorsprünge können konsequente Abweichungen in den Laufbahnen erklären. Auch hier können erfolgreiche Star-Künstler und Künstler-Unternehmer in einer neo-protestantischen Ethik als durch Gottesgnade berührte Auserwählte gesehen werden.
Bleibt also die Neugestaltung eines inklusiven Rahmens. Daran arbeitet die Kunstsphäre der letzten Jahrzehnte, angefangen mit dem offenen Kunstwerk, dem erweiterten Kunstbegriff oder der Institutionskritik. Diese Kritik mündete bereits in den 1970er Jahren in Künstlergruppierungen, die Kunst mit alternativen Formen des Zusammenlebens, Arbeitens, Produzierens zu vereinen versuchten. Aus einem temporär geglaubten Experiment entsteht derzeit eine dauerhafte Bewegung, die u.a. exemplarisch von Nato Thompson dokumentiert und ausgestellt wurde. Welchen Stellenwert nimmt künstlerische Arbeit dann ein? Im Zuge des Social Turn (Bishop) und als Begleiterscheinung des dominanten Kreativitätsdogmas (und mit ihm verbunden, dem monetären und medialen Wert der Kunst), lässt sich der Gegenentwurf eines gesellschaftlichen Werts künstlerischer Arbeit skizzieren. Dieser besondere Eigenwert entsteht, indem anstelle immer wieder neuer Neuaufteilungen des Sinnlichen, also im Grunde ästhetischer Experimente, Neudeutungen des Gesellschaftlichen ausformuliert und als konkrete Formen ausprobiert werden – über den bisherigen, tradierten Wert der Kunst hinaus. Etwas zugespitzt: statt Autorschaft treten Austausch und kollektive Aushandlung in den Vordergrund, aus Originalität wird Methode oder Prozess, anstelle ästhetischer Qualität stellt sich die Frage nach Handeln und Wirkung, aber auch nach dem Richtigen, im ethischen Sinne. Einige nennenswerte gesellschaftlich handelnde Künstler(kollektive), über die beim summercamp diskutiert wurde, waren Jeanne van Heeswijk, WochenKlausur oder Suzanne Lacy.
Aber auch beteiligte Künstler wie Stefan Krüskemper oder Studierende am Berliner Institut Kunst im Kontext, sind in diesem Feld tätig. Diese und andere Künstler, die im außer-institutionellen, nicht-kommerziellen Feld tätig sind (wobei in den letzten 15 Jahren mehrere Institutionen im Schnittfeld zwischen Kunst und Gesellschaft entstanden sind), haben sich bereits von dem Konzept der freien, selbstbestimmten Arbeit verabschiedet. Oder anders formuliert: Solche Künstler machen sich Sozialkritik zu eigen. Die Methoden reichen von politischen Forderungen nach fairen Arbeitsbedingungen über eine gerechtere Verteilung von Fördermitteln (Making a Living, Art but Fair, Bildender Künstlerbund) hin zu kollaborativen Arbeitsformen (etwa bei cobratheater oder oda projesi). Auch auf individueller Ebene bleibt ein kleines Arsenal von Taktiken zur Verfügung, vom Streik zum „détournement“ (hier ist nicht die situationistische Geste gemeint, sondern das verwenden der Kunst als Mittel zwecks anderer Ziele; etwa das Reparieren eines Hauses, das Bezahlen von Honoraren an geflüchtete Lehrkräfte oder das Finanzieren einer OP-Ausstattung, die in ein Kriegsgebiet verfrachtet wird. Die dänische Künstlergruppe nennt dies „readymade upside-down“). Eine dieser Taktiken bezeichnet Kuba Szreder als „radical opportunism“: Trotz sich aneinanderreihender Projekte können Kunstschaffende in dem Falle einer institutionellen Mitarbeit eigene Bedingungen äußern, und zwar nicht (nur) zu den Inhalten, sondern was Prinzipien einer gelingenden Zusammenarbeit angeht (z.B. Umgang miteinander, auch mit einfachem Personal, Verteilung der Honorare).
Im Rückschluss auf die heutige Gesellschaft und ihrem Verständnis von Arbeit bleibt die Frage offen, ob diese Konzeption von Kunst als neu zu verhandelnde, Gesellschaft gestaltende Arbeit, auch außerhalb der Kunstsphäre jemals als Modell gelten wird oder sollte. Interessanterweise zeigen sich immer mehr jüngere Menschen vom Ideal der Selbstverwirklichung durch (vermeintlich „freie“) Arbeit desillusioniert und sehen Versuche eines geglückten Lebens – das heißt auch zunehmend: ihrer eigenen Identitätsbildung – außerhalb dieser. Und im Ozean der Selbstoptimierungsratgeber fängt man an, davon abzuraten, für den Job zu brennen. Jenseits individueller Arbeit lässt sich möglicherweise keine (latent pathogene) Selbstverwirklichung, aber eine Verwirklichung gemeinschaftlicher Ziele und Lebensformen erreichen, die es wert sind, geteilt zu werden.
Ausgezeichnet! Vielen dank, es bereitete mir ein großes Vergnügen Ihren Artikel zu lesen. Er bekommt einen Stern in meiner Leseliste und ich freue mich ihn wieder zu lesen … ab jetzt!