Zusammen mit Darstellern des St. Vincenz Jugendhilfe-Zentrums inszenierten der Public-Residence-Künstler Olek Witt und der Dramaturg Michael Schmidt das Theaterstück „Auf der Suche nach Wasser“ nach dem westafrikanischen Märchen „Der Hase im Reich der Tiere des Dschungels“. Aufführung: 21. März 2015, 17.30 Uhr, Oesterholzstraße 103.
Die Handlung – Nacherzählung eines Zuschauenden
Das Theaterstück zeigt eine Unterrichtssituation in einer Schulklasse mit drei Schülern und einem Lehrer.
Die Jungen werden nach ihren Hausaufgaben gefragt, die zwei nicht gemacht haben, denn sie sind eher uninteressiert an dem, was in der Schule passiert. Nur der dritte, etwas zurückhaltende Junge hat sie gemacht. Für die anderen ist er deshalb ein Streber, auch weil der Lehrer ihm entsprechend wohlwollend gegenüber steht.
Um die etwas angespannte Situation zu lockern, soll Theater gespielt werden. Jeder der drei soll ein Tier darstellen; ein Löwe, ein Elefant und ein Hase werden gebraucht. Der lauteste der drei Jungs möchte den Löwen spielen, aber der Lehrer findet ihn als Hasen am geeignetsten, der „Streber“ erhält die Rolle des Elefanten.
Die Geschichte, die der Lehrer vorliest und die von den Schülern pantomimisch nachgespielt wird, handelt von einer Dürre, die das Wasserloch der Tiere hat austrocknen lassen.
Alle haben sehr großen Durst.
Der Löwe und der Elefant beschließen daraufhin, so tief in der Erde zu graben, bis sie auf Wasser stoßen; der Hase hat aber keine Lust, sich zu beteiligen.
Nach einiger Zeit stoßen die beiden tatsächlich auf Wasser und trinken sich den Durst weg. Der Hase darf aber nicht mittrinken, als Strafe für seine Faulheit.
Er versucht, die beiden umzustimmen, indem er ihnen etwas vortrommelt. Doch sie lassen sich nicht erweichen.
Dann versucht der Hase es mit einem Lied, das den beiden so gut gefällt, dass der Hase jetzt doch trinken darf. Allerdings muss er dafür das Wasserloch bewachen und auf dem Fest, das Löwe und Elefant aus Freude über das gefundene Wasser ausrichten wollen, sein Lied vor allen Gästen singen.
Damit endet das Stück im Stück und auch das Theaterstück.
Zur Rahmenhandlung: Ort und Akteure
Olek Witt, Theaterregisseur und Künstler des Artist-in-Residence-Programms am Dortmunder Borsigplatz, hat zusammen mit dem Dramaturg Michael Schmidt und jugendlichen unbegleiteten Geflüchteten aus dem dort ansässigen St. Vincenz-Heim das Stück erarbeitet und geprobt. Die Teilnahme seitens der Jugendlichen war dabei freiwillig. Aufgrund ihrer ganz unterschiedlichen Herkunft (Guinea-Bissau, Eritrea, Elfenbeinküste, Syrien), ihrer aktuellen Situation und ihrer Verweildauer in Deutschland bildeten die interessierten Jugendlichen keine homogene Ziel- und Spielgruppe, sondern mussten sich erst einmal als Gruppe bilden. Dies führte zu unberechenbarem Schwund bei den Teilnahmewilligen. Dementsprechend war die prozesshafte, kleinteilige und häufig von Unvorhersehbarkeiten unterbrochene künstlerisch-pädagogische Arbeit mit den Jugendlichen weniger von der theatralen Inhaltlichkeit des Stückes bestimmt als von der konkreten Lebenswirklichkeit der Mitspielenden und deren professioneller und empathischer Begleitung durch die Theatermacher.
Dass das Stück im Ladenlokal „103“, dem multifunktionalen Kunst- und Kulturraum des partizipativen Kunstprojektes, aufgeführt werden konnte, ist der Beharrlichkeit der verbliebenen Protagonisten und der (un)sichtbaren Hilfe von Anwohnenden, Zuschauenden, Betreuenden und dem Verein zu verdanken. Belohnt wurde diese Arbeit mit der Anwesenheit eines bunt gemischten Publikums, das sich zahlreich versammelte – Kinder auf den Sofas, Rollstuhlfahrer in Sichtachse, Zuschauende zum Teil auf selbst hergestellten Hockern, der Rest stehend, und erstaunlich viele Jugendliche aus dem St. Vincenz-Heim, die erst zaghaft vor der Scheibe, dann respektvoll im Hintergrund stehen. Nicht zu vergessen den älteren Herrn mit unbestimmbarer migrantischer Herkunft, der balancierend auf Hölzern vor dem Schaufenster versuchte, den zumindest sichtbaren Handlungen zu folgen, die aufgrund der Bestuhlung, des Vorhangs und des Theaterlichts eindeutig als performativer Akt auch für „Außenstehende“ lesbar waren.
Wie lässt sich das Entscheidende für das Gelingen dieser Veranstaltung in Worte fassen? Ist es durch eine Handlung jenseits der Theaterhandlung zu beschreiben?
Souffliert: Blitzlichter aus dem off
Die Jugendlichen, die gedrängt im Eingang stehen, kennen sich. Aber nicht in einer Situation, in der Öffentlichkeit hergestellt wird durch eine künstlerische Form, in diesem Fall durch das Theaterstück.
Öffentlich als Jugendlicher einen Elefant, einen Löwen oder einen Hasen zu spielen, und dies lediglich mit der eigenen Körpersprache, erfordert in jedem Falle Mut. Und noch mehr Mut, wenn das Publikum, diese angsteinflößende Mischung aus Fremdheit und Öffentlichkeit, sich über die Gesten und Handlungen lustig machen könnte. Vorwiegend gelacht haben dann auch die Kinder; gar nicht gelacht haben die Freunde und Bekannte der Darsteller: Die standen respektvoll und leise, manchmal unsicher grimassierend dicht gedrängt. Und als dann der Hase sein Lied sang, ein schwarzer Hase mit Baseballkappe und goldenem Logoshirt, wurde es mucksmäuschenstill: Das französische Lied war nicht das Lied des Hasen, sondern das Lied eines Jungen, der fremd ist im Land und im Lied seine Heimat hat. Das konnten alle Anwesenden verstehen, egal, aus welchem Land, wie alt und wo im Leben stehend.
Und dann fängt neben mir ein Junge an, ganz leise mitzusingen.
Als der Hase am Ende des Stückes beim Fest von Löwe und Elefant sein Lied ein zweites Mal gesungen hat, wurde er von den zuschauenden Kindern mit Rosen beworfen und von allen Anwesenden mit tosendem Applaus gefeiert, der natürlich auch seinen Mitspielern galt.
Hier fällt aber nicht der Vorhang, sondern es geht weiter mit einem ungeplanten Epilog.
Von dem Theaterstück zur gemeinsamen performativen Handlung
Irgendwie kam es dann dazu: Der Hase stellt sich hin und singt den Kindern zuerst noch einmal sein Lied vor. Ganz schön schwierig, diese merkwürdigen Worte und Reime in einer fremden Sprache; aber dann fängt auch der Junge aus dem Zuschauerraum an zu singen, und es werden mehr und mehr, die sich trauen, die fremde Sprache und die unbekannte Melodie nachzuahmen. Der Hase ist ein erstaunlich geduldiger und milder Lehrer, der immer wieder beginnt, bis für einen Moment ein kleiner Chor entsteht – und genau in diesem Moment verwandelt sich Fremdheit in Gemeinsamkeit und es scheint jenseits aller Scheinwerfer eine Wirkmächtigkeit von Kunst auf, die alle Anwesenden berührt und ihnen Mut macht.
Foto oben: Ruth Gilberger
Foto unten: Jullian Sankari