Es ist ein schöner Tag. Sonne. Glockengeläut. Leere Straßen zunächst, Spaziergänger später. Ein Tag für den Tourismus, vor allem den inneren, den Vergleichen und Träumereien. Der Himmel könnte auch der sein, der zurzeit die Menschen in Dubrovnik erfreut, ebenso wie die Menschen in Hoyerswerda oder dem nahen Sauerland. Manche Häuser könnten auch in Heidelberg, Rothenburg ob der Tauber oder Hamburg stehen. Die Frühlingsfußgänger vertreten halb Europa.
8. März 2015
Heute ist Sprechstunde. Zum ersten Mal im Halbhell. Verzögerter Beginn. Jemand bringt Kuchen. Wieder wird die halbrunde Sitzung eingerichtet. „Tourismus am Borsig“ ist das Thema, temporärer lokaler Tourismus – Gewinn von Fußballspielen, BVB-Ereignisse, Führungen – Borsigplatzverführungen, Hoesch-Museum (Extraschicht), Einzeltouristen mit Rucksack, Nordstadtgucker.
Wer hat denn schon mal einen Touristen hier gesehen? Wie sehen die aus?
Wieder neue Gäste. Ein ehemaliger Bahnarbeiter und Hobbymaler aus Brandenburg. Zugezogen wegen seiner Tochter.
Der Moderator erläutert sein Tourismus-Projekt „Borsig-VIPS“, das im Mai stattfindet. Wer will ein unbekannter Berühmter sein? Es gibt Vorschläge: eine ehemaliger Boxer (längst tot), ehemalige Fußballspieler (längst tot).
Der Autor liest einen Text, der am Vortag entstanden ist:
Kommt alle! (K)eine Kunstaktion
Am Borsigplatz auf einer Bank mit Blick auf das Rondell.
Ein Paar im Alter von ca. 60. Sie schauen. Er schaut auf die Uhr.
Nach einer Weile.
Sie: Hier is ja gar nix.
Nach einer Weile zeigt er auf die andere Seite.
Er: Da war ne Würstchenbude früher.
Sie: Jetzt ist es ein Dreckloch.
Er: Passt ja jetzt hierhin.
Sie schauen. Nach einer Weile.
Er: Da hinten ist ein Aktivist. Der geht da rein.
Nach einer weiteren Weile.
Sie: Da wird gebaggert. Was holen die da denn raus?
Er: Kann ich Dir nicht sagen. Was die da rausholen. Gehen wir wieder?
Sie beobachten den Verkehr des Kreisverkehrs.
Es gibt ein riskantes Überholmanöver.
Er: Der Grüne hier, wieder so ein Wahnsinniger.
Sie: Guck mal, die Fähnchen. Kann man gar nicht erkennen.
Er: Alles Wahnsinnige. (Er meint die Autos.)
Er: Ich denke, um halb vier wird sich hier was bewegen. Wir sollen doch um halb vier hier sein. Da sind wir und nichts bewegt sich.
Sie: Da steht einer.
Er: Wenn keiner mehr zur Wahl geht, was willste verlangen?
Sie schauen.
Sie: Künstler! Da haben die 200.000 Euro gekriegt und jetzt sitzen wir hier.
Er: Die Künstler, jaja.
Sie: Schöner warmer Tag. Der Verkehr. Wahnsinnig.
Er niest.
Sie: Ups. Wahnsinn.
Er: Die schreiben: Wir treffen uns um halb vier und jetzt?
Sie: Da hinten stehen welche.
Er schaut auf die Uhr. Es ist viertel vor vier.
Sie: Die Künstler. Die haben 200.000 Euro und hier sind so Straßenschilder und ein paar Fähnchen. So ein Blödsinn.
Sie stehen auf und gehen. Er trägt eine blaue Stofftasche mit sich, die er locker von der Hand baumeln lässt, sie ein Handtäschchen. Sie spazieren zurück, wo sie hergekommen sind, die Oesterholzstrasse entlang, bleiben mal hier, mal dort stehen, um Kommentare abzugeben. An Nummer 103 angekommen, schauen sie ins Ladenlokal, wo derzeit keiner ist. Sie geht auf die Knie, um das Programmposter zu lesen.
Sie: Ja, hier steht‘s nochmal: 15 Uhr dreißig. Vielleicht liegen sie noch im Bett, die Künstler.
Er: Was steht da noch?
Sie: Um 18.00 Uhr ist wieder was…morgen…
Sie gehen weiter und verschwinden um die nächste Hausecke.
Im „103“ wird gelacht und geplaudert. Wir sehen uns wieder und reden über Geld.
Das Vorhaben
Es könnte ein Drehbuch entstehen, ein Hörspiel oder gar Theaterszenen. Dazu lädt der Autor, Regisseur und Schauspieler Rolf Dennemann sonntäglich um 18 Uhr die Bewohner um den Dortmunder Borsigplatz ins „Ladenlokal 103“, in die Oesterholzstraße 103 ein. „Sprechstunden“ nennt Rolf Dennemann dieses Format, welches im Rahmen des Kunstprojektes „Public Residence: Die Chance“ stattfindet. Ein Raum wird geschaffen, der ein Bürgertreff ist, aber andere Wege geht. Austausch steht hier an erster Stelle: das Erzählen, Zuhören und Präsentieren. Die Kunst spielt dabei eine große, wenn auch unaufdringliche Rolle. So sollen Geschichten nah an der Lebensrealität der Bewohner und Besucher – wird Alltägliches – in Kunst verwandelt werden. Die Texte, die dabei entstehen, nennt er „Borsig-Blinks“.
Foto: Rolf Dennemann