Straßenschluchten, Leuchtreklamen, Verkehrslärm, stickige Abgasluft, schrille Farbwechsel, glatte Oberflächen, funktionale Architektur, Menschengedränge, Anonymität, Konformität, Hektik. Wer kennt es nicht, dass die Eindrücke der Großstadt erschlagen können, die Sinne überfordern und die Augen ermüden. Wie oft flüchten wir uns in Gedanken, fixieren den nächsten Schritt, den nächsten Termin und blenden die Welt um uns herum aus. Die Fotobücher von Peter Bialobrzeski ermöglichen einen verweilenden Blick auf Ausschnitte aus urbanen Räumen und ihren Ästhetiken, eingefasst in den Formatrahmen der Fotografie. Beim mobilen Fotobuchprojekt „Welt im Umbruch“ ist sein Buch „The Raw and the Cooked“ vertreten. Am 24. März fand aus diesem Anlass ein öffentliches Künstlergespräch im Lehmbruck Museum Duisburg statt, das Einblicke in seine Arbeits- und Sichtweisen bot.
Noch heute Mittag stand ich mit Besucherinnen und Besuchern der mobilen Ausstellung auf dem Akzente Festivalgelände vor dem auf Paletten aufgezogenen Foto von Peter Bialobrzeski, das einen Kontrast zwischen futuristischen Wolkenkratzern und direkt angrenzendem Müll der Altstadt in Shanghai zeigt. Meistens dauert es ein paar Momente bis die Menschen sich in die verschiedenen Ebenen des Bildes hineingefunden haben und beispielsweise erkennen, dass im Vordergrund des Bildes keine Mülldeponie zu sehen ist, sondern kleinste Bauschuttteile bereits abgerissener Gebäude. „Wer entscheidet das?“ und „werden die dort lebenden Menschen entschädigt, wenn ihr Haus und ihr Viertel abgerissen werden?“ sind Fragen, die die Anwesenden beschäftigen. Ein kleines Mädchen fragt: „Mami, wer wohnt denn dort?“. Tatsächlich sind keine Menschen auszumachen auf dem Foto, das unzählige Wohneinheiten mit zum Großteil erleuchteten Fenstern zeigt – sowohl in den ein- bis zweigeschossigen alten Häusern im Vordergrund, als auch in den bis zu 30 Etagen der Wolkenkratzer, die in den fast taghellen Himmel, in dem die Lichter der Stadt reflektiert werden, ragen. Die Mutter des Mädchens sagt nachdenklich: „Da weiß man gar nicht, wo man lieber wohnen möchte“. Angesichts dieser spannenden Gespräche und offener Fragen, die in den vergangenen zwei Wochen immer wieder aufgekommen sind, freue ich mich ganz besonders heute am Künstlergespräch mit dem Fotografen teilzunehmen und Hintergründe zu der Entstehungsgeschichte dieses „Welt im Umbruch“-Fotos zu erfahren.
Städte im Umbruch: sich selbst ein Bild machen
Das ersten Foto, das Peter Bialobrzeski am Abend im Lehmbruck Museum zeigt, bricht in gewisser Weise mit den Erwartungen vieler Gäste: Es ist ein Strand der deutschen Ostsee bei Nacht zu sehen. Peter Bialobrzeski, Fotograf und Professor an der Akademie der Künste in Bremen, ist schließlich vor allem bekannt für die Dokumentation und künstlerische Darstellungsweise urbaner Räume in Asien: die rasante Entwicklung von Megametropolen wie Hongkong, Shanghai und Bangkok und damit verbundene Ästhetiken sind in seinem wohl wichtigsten und bekanntesten Buch „Neon Tigers“ von 2004 eindrücklich inszeniert.
Heute Abend möchte Peter Bialobrzeski die Anwesenden mit auf eine Reise zu dem eingangs beschriebenen Foto aus Shanghai mitnehmen und widmet sich den Fragen: Woher komme ich, wohin gehe ich? Wie entsteht ein Bild? Wie mache ich mir ein Bild? Was kann man im Bild erkennen, was man in der Wirklichkeit nicht sehen kann? Das Bild von dem Ostseestrand entstand 1990 kurz nach dem Ende der DDR und zeigt, dass die Auseinandersetzung mit Umbrüchen schon immer eine Motivation zur Motivwahl für den deutschen Fotografen dargestellt hat. Peter Bialobrzeski hat es schon früh in die Welt und insbesondere nach Asien gezogen: während zahlreicher Rucksackreisen war es ihm ein Anliegen, sich durch das Bildermachen ein eigenes Bild zu machen von der Welt. Allein nach Indien und China ist er nach eigener Aussage zwischen 10- und 20-mal gereist: nach Indien, weil ihn das spirituell aufgeladene Land, die magischen Orte und Menschen fasziniert haben und er versucht hat, eben diese Wahrnehmungen und Gefühle in Bilder zu übersetzen. Mir gefällt bei diesen Schilderungen die Metapher, dass Kunst eine Übung sei, vergleichbar mit der Yoga-Praxis etwa. Ganz gleich wo er fotografiert, Peter Bialobrzeski beschreibt, dass jeder seiner Arbeiten ein inneres Mantra zugrunde liegt: eine Vorstellung, eine Idee, die er verfolgt und nach deren äußeren Entsprechung er sucht und die er in vielen Versuchen variiert. „Das ist ein bisschen so wie das Deklinieren von unregelmäßigen Verben.“
Für sein Buch „Neon Tigers“ unternahm Peter Bialobrzeski sieben Reisen in sieben Städte Asiens für jeweils zehn Tage, in zwei Jahren. Seine Vorliebe für „dystopische Science Fiction“ ließ ihn nach einem Bild suchen, das jenseits der Realität zu liegen scheint – wie eine Kulisse aus dem Film „Blade Runner“ etwa (ich denke an die gerade im Kino angelaufene Verfilmung des Manga „Ghost in the Shell“). Mit einer geliehenen Großformatkamera, die eine Belichtungszeit von vier Minuten benötigt, machte er sich auf die Suche nach Punkten in der Stadt, die eine Komplexität aufweisen und sich dazu eignen, Schnittstellen zwischen Dokumentation und der Vermittlung eines Gefühls, zwischen Realität und Traum, darzustellen. Markus Schaden, der den Abend moderiert, interessiert sich dafür, inwiefern die Fotos den Städten zuzuordnen seien und inwiefern der Ort beliebig wird. Peter Bialobrzeski entgegnet, dass es ihm bei dieser Arbeit vorrangig um die ästhetische Konstruktion einer virtuellen Megastadt gegangen sei und weniger um eine narrative Struktur. Anders bei seinem jüngeren Fotobuch „The Raw and the Cooked“, während dessen Entstehung er für sechs Monate in sechs verschiedenen asiatischen Megastädten gelebt und unterrichtet hat und sich intensiv mit den Stadtstrukturen, ihrer Organisationsform und Entwicklung auseinandergesetzt hat. Der narrative Bogen spannt sich in diesem Fotobuch von einer einfach gezimmerten Hütte am Strand, über dreistöckige Slums bis hin zu verdichteten, modernen Wolkenkratzern aus Glas, die das gesamte Blickfeld ausfüllen und den Horizont verschwinden lassen.
Mich beeindrucken die Geometrie der Stadtsilhouetten, die zum Teil artifiziell wirkenden leuchtenden Farben und Stadtlichter, die Ästhetisierung von auf dem ersten Blick vielleicht hässlich Erscheinendem. Und doch frage ich mich zunehmend – wie das kleine Mädchen vor dem Bild in der Ausstellung: „Welche Menschen leben hier? Und sehnen sie sich nicht aus der Stadt hinaus ins Grüne?“
Was für viele eine romantische Vorstellung ist, das Häuschen auf dem Land, der Bauernhof, die Almhütte, das Weingut oder auch einfach der konkrete Wunsch aus der Stadt in die Peripherie zu ziehen, ist für viele Menschen und in vielen Ländern dieser Welt zunehmend ein Luxus, der unerreichbar ist, meint Peter Bialobrzeski: „Wenn alle idyllisch im Grünen leben würden und noch eine Zweitwohnung in der Stadt hätten, würde uns der Planet um die Ohren fliegen – es ist auf jeden Fall ökologisch sinnvoller Menschen zu stapeln.“ Erstaunt hätte es ihn, wie normal manche massiven Veränderungen zum Teil wahrgenommen würden, in China beispielsweise findet aktuell ein Boom von Wind- und Solarenergie und eine Kehrtwende in der Kohleindustrie statt – rasante Veränderungen, von denen Deutschland nur träumen kann.
Fotografie als Ordnungsstifterin zur Bewältigung von Welt?
Neben der Möglichkeit sich selbst ein Bild zu machen und eine Perspektive einzunehmen, weist das Fotografieren aber auch noch weitere Besonderheiten im Umgang mit der beobachteten Umgebung auf: in einer Welt, die immer komplexer und undurchschaubarer wird, scheint die Reduktion auf einen Ausschnitt und das Festhalten einer Momentaufnahme Halt geben zu können. Peter Bialobrzeski hierzu: „Es ist ein bisschen wie eine Therapie – in dem Moment, wo ich die Welt fotografiere, kann sie mir nicht gefährlich werden. Das heißt ich versuche die Welt zu kontrollieren, indem ich Bilder von ihr mache und so dieses ganze Chaos nicht auf mich einstürzen lasse. Fotografie ist immer ein Ordnungssystem. Ohne Ordnung kann man kein lesbares Bild schaffen. Und wenn es nur das Geviert ist, was drum herum ist.“ Neben diesem der Fotografie in gewisser Weise immanenten Prinzip der Ordnungsstiftung arbeitet Peter Bialobrzeski aber auch mit natürlichen, sowie selbstauferlegten Begrenzungen und Reduktionen, getreu dem Motto des Bauhaus-Begründers Walter Gropius „Gestalten heißt: In Fesseln tanzen“. Innerhalb eines Projektes arbeitet er stets mit nur einer Kamera und einem Objektiv. Nach sorgsamer Recherche und Streifzügen kehrt er zur richtigen Tageszeit zurück und fotografiert sein Motiv mit jeweils zwei Belichtungen pro Einstellung, um die verhältnismäßig hohen Kosten beim Nutzen einer Großformatkamera zu begrenzen. Spannend wird es, wenn die ausgewählten Orte einen hohen Grad an Komplexität aufweisen und somit ein Spannungsfeld zwischen dem Motiv und dem fotografischen Abbild entsteht, wie Peter Bialobrzeski an einem seiner Lieblingsbilder demonstriert. Das Foto zeigt eine Straßenszene, die sehr viele Richtungsachsen vereint durch sich kreuzende und überlagernde Brücken und Straßen auf unterschiedlichen Ebenen. Es gehe ihm darum, die Grenzen auszuloten was der Rahmen aushalten kann. Das gezeigte Foto habe eine Oberfläche, die sehr schwer zu lesen sei und eher Züge einer Collage aufzuweisen scheint. Die Suche nach Systematik scheint nicht nur der Fotografie innezuwohnen, sondern auch uns Rezipierenden als natürliche Sehgewohnheit. Eine Fotografie vermag je nach Kontext somit beides: dem Blick Halt geben oder aber die Wahrnehmung irritieren.
Das Fotobuch als visuelle Literatur
Welcher (Mehr-) Wert kommt dem Fotobuch im Vergleich mit der einzelnen Fotografie zu? Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Fotografie ein überaus populäres und demokratisches Medium ist: nahezu jede Person hat Zugang und kann, wenn sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, etwa mit dem Mobiltelefon, einen Schnappschuss erzielen. Fotobücher hingegen funktionieren als eine Art visuelle Literatur, durch die Geschichten erzählt und vielschichtige Inhalte sowie eine Haltung transportiert werden können –komplexer als im Einzelbild. Markus Schaden vom PhotoBookMuseum beschreibt die gegenwärtige Entwicklung als eine regelrechte Renaissance des Fotobuchs: „Fotobücher in ihrer besten Form kreieren ein visuelles Bild von Teilen der Welt, das man sonst einfach nicht hat“. Durch eine entsprechende Präsentation, Vermittlungsarbeit und im Austausch ist es möglich, solche Bücher regelrecht zum Leben zu erwecken – so wie es auch gerade am heutigen Abend passiert. Das Fotobuch „The Raw and the Cooked“ wandert durch die Hände der Anwesenden. Ich blättere wiederholt durch die Seiten und stelle fest, dass sich die Bilder im Zusammenspiel mit den Hintergrundinformationen des Künstlers für mich noch einmal neu zu einer Geschichte verweben.
Was machen die Dinge mit einem, die man gesehen hat?
Leider bleiben im Anschluss an den Vortrag lediglich zehn Minuten Zeit um ins Gespräch zu kommen bevor das Museum seine Pforte schließt. Vielleicht müssen manche Fragen, z.B. ob es sich bei den gesehenen Bildern um künstlerische oder dokumentarische Fotografie handelt aber auch nicht an diesem Abend beantwortet werden bzw. verschließen sich einer Verallgemeinerung…? Nach einem abschließenden Plädoyer für Bilder als kulturelle Praxis von Peter Bialobrzeski schlussfolgere ich für mich als Zuschauerin, dass die Bildrezeption neben der kulturellen auch eine soziale Praxis darstellen kann und sollte. Mir ein eigenes Bild zu machen erscheint mir ein sinnvoller erster Schritt. Als ich in das nächtliche Duisburg aufbreche, bleiben in meinem Kopf auf jeden Fall die Fragen: Wie möchte ich wohnen und leben? Und was ist mein nächster Schritt auf dem Weg in Richtung sozialer und ökologischer Verantwortung?