1 Jahr, 7 Künstler, 1 Verein, 1 Stiftung, eine vielfältige Quartiersbevölkerung, eine Kunstwährung, unzählige quergedachte Ideen und ganz viel Teilhabe. Und was bleibt?

am 22. Juni 2015 | in faktor kunst 2013, Public Residence: Die Chance | von | mit 0 Kommentaren

Der Ist-Zustand als Ausgangspunkt für den Blick in die Zukunft. Wie kann das, was nun erreicht wurde, fortgesetzt werden? Eine Frage, die sich nicht nur die Projektpartner von „Public Residence: Die Chance“ stellen, sondern auch viele Anwohner am Borsigplatz, die an den Angeboten des Projektes teilgenommen haben. Bei der Finissage am 30. Mai 2015 bot sich eine gute Gelegenheit, dem Ist-Zustand zu begegnen.

Momente des Geschmacks und des Erlebens: ästhetische Wahrnehmung im Alltag

Auf einem kleinen Holztisch stehen Einmachgläser. Mal ist der Inhalt rot-violett, mal braun-gelb, mal leicht gräulich und lässt nur erahnen, was dort womöglich eingekocht wurde. Erschmecken wird es nur derjenige, der sich traut, ein Stück Fladenbrot hinein zu dippen und davon angeregt, Chancen im Portemonnaie zusammensucht, um noch ein letztes dieser geheimnisvollen Gläser zu erstehen. Die Erfahrung, dass im alltäglichen Kochen ein besonderes Erleben und Wahrnehmen liegen, inspiriert die Teilnehmer des von der Künstlerin Angela Ljiljanic initiierten Projektes „Geschmacksarchiv“ nach wie vor. Sie entwickeln nun neue eigene Editionen und geben ihr Wissen an Nachbarn und Freunde weiter.

„Chancen“ als Chancen? Shoppen, unterstützen oder teilhaben?

T-shirt "Freie Republik Borsigplatz", Foto: Guido Meincke

T-shirt „Freie Republik Borsigplatz“, Olek Witt; Foto: Guido Meincke

An diesem Tag ist das Erstehen eines limitierten Geschmackswerkes eine Möglichkeit von vielen, die durch Public Residence eingeführte Kunstwährung „Chancen“ zu nutzen. Direkt neben den Einmachgläsern lädt ein zweiter Tisch zum Weitershoppen ein. Ein weißes identitätsstiftendes T-Shirt mit dem Aufdruck „Freie Republik Borsigplatz“ ist zu erwerben. Um bald im Trend zu liegen, scheint dieses aus einem Projekt des Künstlers Olek Witt entsprungene T-Shirt für den modernen Borsigianer eine unweigerliche Anschaffung. Auch am Kiosk nebenan entsteht der Eindruck, die Chancen seien nun als eine geldwerte Parallelwährung am Borsigplatz angekommen. Für ein paar Chancen bekommt man dort Honig des Hobbyimkers Jürgen Elker.

BBQ-Performance, Dorothea Eitel; Foto: Guido Meincke

BBQ-Performance, Dorothea Eitel; Foto: Guido Meincke

Andere Besucher nutzen die Chancen auch als Eintritt, um an Aktionen teilnehmen zu können. Möglich ist das z. B. für den Besuch einer Aufführung der Theatergruppen des Künstlers Olek Witt, die Teilnahme an der BBQ-Performance der Tänzerin Dorothea Eitel oder auch an der von dem Künstler und Drehbuchautor Rolf Dennemann entwickelten VIP-Führung. Die Chancen können eingesetzt werden, um die Künstler zu unterstützen. Denn diese können die Kunstwährung im Büro von Borsig11 in reales Geld umtauschen, damit für die Aktionen entstandene Kosten beglichen werden können. Diese komplexe Struktur, mit ihrer ursprünglichen Idee, die bürgerliche Beteiligung an Kunstprozessen zu fördern, scheint jedoch auch nach einem Jahr nicht allen Besuchern des heutigen Tages deutlich. So werden die Chancen zwar mit Überredungsarbeit abgeholt, dann aber auch lieber schnell wieder abgegeben.

Immerhin gibt es nach einem Jahr von 100.000 noch rund 46.000 Chancen, die die Anwohner für weitere Aktionen nutzen können: eine Möglichkeit, mit der Bevölkerung gemeinsam die entstandenen Teilhabestrukturen weiterzuentwickeln. Ideen und Engagement sind gesucht! Einige Anwohnerinnen und Anwohner haben also schon den Wert der Chancen erkannt und auch für ihr Engagement bereits Chancen erhalten, die sie weiter einsetzen konnten.

Selber können macht unabhängiger
Ein Programmflyer zeigt auf einem kleinen Stadtplan alle Stationen des Tages. Eine Revue der im Rahmen des Projektes umgesetzten Aktionen. Es bleibt die Qual der Wahl oder ein gut getaktetes Programm, das sich jeder Besucher selbst zusammenstellen kann. „So ungefähr hatte ich mir das gedacht“, lacht einer der Projektleiter, Guido Meincke, mit Blick auf meinen Ablaufzettel. „Die Besucher bekommen den von uns erstellten Stadt- und Programmplan und lassen sich dann von Ort zu Ort treiben.“ Ein Plan der aufgeht, denn an jeder Station treffe ich von anderen Stationen bekannte Gesichter.

Dortmunder Schwarzbräu, Frank Bölter; Foto: Guido Meincke

Dortmunder Schwarzbräu, Frank Bölter; Foto: Guido Meincke

Meine erste Station am Morgen ist der kleine Borsigplatz. Schon morgens früh um 10 Uhr beginnt der Künstler Frank Bölter dort seine Aktion. Die letzten Monate hat er hier gemeinsam mit Anwohnern regelmäßig Dortmunder Schwarzbräu gebraut. So wird auch heute trotz des starken Regens das letzte gemeinsame Bier gebraut. Sein Motto: Selber können stärkt das Selbstbewusstsein und macht unabhängiger: „Bei meinen Aktionen geht es mir darum, verschiedene Impulse zu setzen, damit sich die Menschen ihrer Qualitäten bewusst werden und dafür auch geschätzt werden.“ Bölters Traum ist es, dass es auch ohne ihn hier weitergehen wird und die Menschen sich treffen, um gemeinsam ihr eigenes Bier zu brauen.

Phantastische Perspektivwechsel

"Wolkenkuckucksheim", Frank Bölter; Foto: Guido Meincke

„Wolkenkuckucksheim“, Frank Bölter; Foto: Guido Meincke

Ein paar Meter vom kleinen Borsigplatz entfernt entdecke ich Dortmunds neue Hausbesetzerszene. Eine Gruppe riesengroßer weißer Papiervögel, hat sich in die offenen Fenster eines leerstehenden Gebäudes eingenistet und gibt dem Vorbeigehenden eine Idee von einem möglichen phantastischen Innenleben des Hauses. Die Phantasie scheint das Haus wiederzubeleben und trotz des Regens bleiben die Vögel standhaft und laden Vorbeigehende zum Verweilen ein. „Wolkenkuckucksheim“ heißt diese Installation, die Bölter gemeinsam mit Anwohnern errichtet hat an einer Straße, die bereits im Rahmen einer Kunstaktion von Henrik Mayer in die „Straße der verführerischen Erlebnisse“ umbenannt wurde.

Verführerisch ist auch die von Autor und Regisseur Rolf Dennemann entwickelte VIP-Führung, der ich mich sogleich anschließe. Die Kunstvermittlerin Annette Kritzler führt gemeinsam mit dem Schauspieler Matthias Hecht und der Anwohnerin Nora Reul neugierige Besucher und Anwohner durch die Straßen des Viertels. Gezeigt werden Orte von scheinbar ganz besonderer Bedeutung mit scheinbar ganz besonderen Geschichten. Es werden immer mehr unerhörte Geschichten und Ereignisse aufgetischt, die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion verschwimmt und wird überflüssig. Die ganze Gruppe scheint die Informationen über all die wichtigen Menschen, die hier leben oder angeblich gelebt haben, aufzusaugen. Könnte es doch eigentlich jeder von uns sein, dessen Geschichten auf unerhörte Weise zum Besten gegeben werden. Wie viel Wahrheit im Kern der Geschichten stecken, spielt keine Rolle mehr und die Teilnehmer der Führung werden Schritt für Schritt Teil einer Performance.

VIP-Führung, Rolf Dennemann; Foto: Guido Meincke

VIP-Führung, Rolf Dennemann; Foto: Guido Meincke

Sich auf die Kunst einlassen
Ohne aktive Teilnehmer ist auch die BBQ-Performance der Choreographin und Tänzerin Dorothea Eitel nicht zu denken, die auf den ersten Blick zunächst eine ausgewogene vegane Mahlzeit verspricht. Bis dahin muss jedoch noch einiges getan werden. So wird Gemüse zerkleinert, ästhetisch gestapelt, an den Grill getragen. Dass Schauspieler und Tänzer anwesend sind, ist jedem Gast von Anfang an klar, doch plötzlich werden auch andere Anwesende aktiv, spielen Szenen, lassen sich zum Spielen und Tanzen verführen, während Eitel mit Salatblättern im Haar Szenarien durchbricht, neue Szenen schafft, Kontakt zu den Anwesenden aufnimmt. Sie ordnet den Raum neu, indem sie Linien des Kontaktes und der Improvisation durch den Raum und die Gruppe zieht, Bewegungen der Gäste aufnimmt, sie auffordert und mit den Menschen, die sich auf die Bewegung einlassen, neue Bewegungswerke schafft, die wiederum von einer Percussion-Gruppe, bestehend aus Künstlern und Anwohnern, untermalt werden. So wird das BBQ zu einem Gesamtkunstwerk.

Eigenverantwortung und Selbstbewusstsein

"Szenen einer Großstadt", Olek Witt; Foto: Guido Meincke

„Szenen einer Großstadt“, Olek Witt; Foto: Guido Meincke

Unter den Besuchern der Performance erkenne ich Silas wieder. Ein Junge, der auch an Olek Witts Theaterangebot teilnimmt. Mit unglaublichem Körpergefühl und dem Sinn für Improvisation lässt er sich spontan auf die Bewegungen von Eitel ein und präsentiert den beeindruckten Zuschauern ein Meisterwerk der Kontaktimprovisation. Schon eine Stunde später steht er mit anderen Schülern auf der Bühne im Ladenlokal 103 und spielt das Stück „Szenen am Rande einer Großstadt“, das das Ergebnis eines halbjährigen Theaterprojektes ist, das Witt an der Kielhorn Förderschule angeboten hat.

Ebenso in der 103 zu sehen ist das Stück „Kornelius und der Wunsch-Hut“, aufgeführt von einer Gruppe Schüler der Oesterholz-Grundschule. Witt hat die Theatergruppen gegründet, um das Selbstbewusstsein und die Weiterentwicklung des Einzelnen zu fördern. Der Stolz über den Erfolg auf der Bühne ist den jungen Schauspielerinnen und Schauspielern sichtbar anzusehen.

Gesprächsanlässe und gemeinsame Visionen
Neben mir im Ladenlokal 103 sitzt die Anwohnerin Elise mit ihrem Mann Udo. Beide sind erst vor einer Stunde von ihrem Dänemark-Urlaub zurückgekehrt. Seit heute Morgen seien sie mit dem Auto unterwegs gewesen und, kaum zu Hause angekommen, direkt zur Finissage gegangen, berichtet sie mir: „An eine Pause war aber nicht zu denken, denn so viel Programm wie heute, gibt es hier selten. Schade aber, dass das Projekt nun vorbei ist. Heute sind so viele junge Menschen hier. Das müsste weitergehen, dann wird die Gruppe der aktiven Anwohner immer größer.“ Udo kann das bestätigen: „Es muss weitere Anlässe geben. Es darf nicht einfach so vorbei sein!“ Was es denn brauche, damit das Projekt weitergehe, frage ich Elise. „Regelmäßigkeit und Struktur in der Planung von Angeboten“, ist ihre Antwort.

VIP-Führung, Rolf Dennemann; Foto: Guido Meincke

VIP-Führung, Rolf Dennemann; Foto: Guido Meincke

Den ganzen Tag über konnte ich erleben, dass es hier sehr viele Menschen gibt, die zwar Tür an Tür wohnen, sich aber erst durch dieses Projekt kennengerlernt haben. Ob durch die Aktionen, die die Künstlerin Susanne Bosch zu Beginn des Projektes angeboten hatte (z. B. die Entwicklung einer Give-Box) oder auch die vielen anderen Aktionen, die folgten und deren Ergebnisse noch immer zu sehen und zu spüren sind: Viele Kommunikationsanlässe wurden geschaffen und haben es den Menschen ermöglicht, mit Künstlern und Nachbarn zu sprechen, mit denen sie vorher nicht ins Gespräch gekommen wären, über Kunst, mit der sie zuvor noch nicht viel zu tun hatten.Dabei hat sich der Blick auf ihren Stadtteil verändert. Und die Motivation, etwas Eigenes zu starten, ist entflammt.

Foto (oben): Guido Meincke

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