In den letzten Wochen erreichen mich aus meinem weiterem Umfeld Beileidsbekundungen. Nein, niemand ist gestorben, mir als selbständige Künstlerin wird Beileid ausgesprochen. „Liebe Susanne wie geht es dir in Coronazeiten? Habe öfter an meine freiberuflichen Bekannten gedacht…“ „Haben sich für Deine beruflichen Sorgen Lösungsansätze ergeben? Ich wünsche Dir sehr, dass Du den kommenden Wochen mit Gelassenheit entgegensehen kannst.“
Wer mit mir in Kontakt ist, hat in den letzten Wochen von mir alles andere gehört, als Sorgen über meinen Beruf. Ich bin irritiert, was ist das für eine neue Spaltung? Sprechen da die Angestellten zu den freiberuflichen Menschen? An meiner Situation als Freischaffende in einem prekär finanzierten Sektor ist doch überhaupt nichts neu oder anders! Bisher hat mir nie jemand ein Beileid zu meiner Berufswahl ausgesprochen!
Langsam dämmert es mir: Noch nie haben Künstler und Künstlerinnen so laut und geschlossen ihre ökonomischen Konditionen kundgetan. Noch nie wurde so klar, wie der Sektor monetär funktioniert. Noch nie wurde flächendeckend deutlich, wie viele gut ausgebildete Menschen sich in diversen Fachsektoren in diesem Feld auf sehr dünn finanziertem Eis bewegen. Ich habe mir diesen Beruf ausgesucht, er ist mir nicht „passiert“. Ich kenne mich bestens auf diesem dünnen ökonomischen Eis aus. Das ist für mich nicht wirklich spannungsvoll und neu. Ich freue mich natürlich, wenn ein neues Bewusstsein für die Umstände von Kunstproduktion entsteht und in mehreren Richtungen nachjustiert würde. Mit Richtungen meine ich sowohl eine andere Förderungs- und Wertschätzungslandschaft als auch eine deutlichere Bewusstwerdung der Kulturschaffenden, wo/wie sie eigentlich tätig sind.
Speziell den Bildenden Künstler und Künstlerinnen würde ich eine umfassende Erweiterung ihres Berufsbildes zumuten: Ich würde schon im Studium deutlich machen, dass rein produktorientierte Kunst Teil eines Marktes ist, der ein absolut neoliberaler und radikaler Wettbewerbsmarkt ist. Insofern ist auch zu verstehen, dass die Zeitungen voll sind mit besorgten Galeristen, Galeristinnen und Museumleitungen. Wenn man sich ein wenig mehr damit beschäftigt, wird deutlich, dass der Diskurs um diese Situation sehr fortgeschritten analysiert ist (nachlesbar u.a. hier: http://www.gregorysholette.com/dark-matter-by-gregory-sholette/). Galerieleitungen sind die Außenstelle der Distributionskette und natürlich wie alle Geschäfte und Betriebe davon betroffen, wenn die Messen und Ausstellungen nicht stattfinden, d.h. der Kontakt zur Kundschaft unterbrochen wird und somit die Produkte keine Kaufenden finden. Geförderte Kulturinstitutionen legitimieren ihre Budgets über Zahlen von Besuchenden. Natürlich steht alles (noch mehr als üblich) in Frage, wenn niemand kommen kann.
In Zahlen gelesen, (über)leben nur ca. 5% der zeitgenössischen Künstler und Künstlerinnen in der Bildenden Kunst von diesem Zweig. Wir reden also von einer Minderheit. Was ist mit den anderen 95%? Sterben die den Hungertod, wenn die Ausstellungen ausfallen? Finanzieren die sich nicht eh schon immer quer? Sind sie nicht eher in Schwierigkeiten, weil auch die anderen Standbeine oft kreativ-angewandt sind und projektbasiert vergütet werden? Was neu ist und sein könnte, ist zu erahnen: Was bedeutet es, zum Kunstsektor zu gehören und Kunst zu machen während wir global in eine Wirtschaftsumstrukturierung gehen? Ich möchte das Potential der Kunst hier nicht unter dem Aspekt eines Sterbeprozess begreifen. Denn ich behaupte, im Moment explodiert das kreative Sein.
Dr. Steinmeier fällt was auf
„Ich glaube: Wir stehen jetzt an einer Wegscheide. Schon in der Krise zeigen sich die beiden Richtungen, die wir nehmen können. Entweder jeder für sich, Ellbogen raus, hamstern und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen? Oder bleibt das neu erwachte Engagement für den anderen, für die Gesellschaft? Bleibt die geradezu explodierende Kreativität und Hilfsbereitschaft? …“ (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/04/200411-TV-Ansprache-Corona-Ostern.html)
Der Begriff „explodierende Kreativität“ trifft es ganz gut. Das habe ich in den letzten Wochen erlebt, an mir selbst, an und mit anderen. Als Künstlerin war ich in einem High, einem Rausch, einer immensen Begeisterung für die Potentialität der Situation. Wer mich in den letzten Wochen erlebt hat, hätte sich nicht getraut, mir ein Beileid zu bekunden. Warum auch? Stecke ich doch einmal mit meinem Kabel in der richtigen Steckdose. Die Energie, die mich speist, kommt aus dem Trainingslager der Kunst und in dem weiß man alles über künstlerische Entstehungsprozesse und deren optimale Bedingungen.
Kunst-Produkte mögen sich im Moment weder verkaufen noch mit der üblichen Aufmerksamkeit und atomisch genauen Akribie fertigstellen lassen (obwohl, wer weiß…), aber definitiv ist es ein Moment der Erforschung und des Kennenlernens dieses anderen Raumes, in dem wir uns alle befinden. Und dass es sich nicht um eine exklusive Fähigkeit von professionell Kunstschaffenden handelt, sondern eine originär menschliche Fähigkeit ist, erleben wir auch in diesen Tagen. Die explodierende Kreativität im unbekannten Raum geht einher mit kulturwissenschaftlichen Beobachtungen, dass die gesellschaftlich notwendigen Veränderungen umfassend und in erster Linie kulturelle Prozesse sind. (u.a. nachzulesen in Art and Sustainability, Connecting Patterns for a Culture of Complexity, von Sacha Kagan, Transcript, 2011). Hier möchte ich unbedingt auf den erweiterten Kunstbegriff und damit eine umfassende Erweiterung des Berufsbildes hinweisen.
In der Welt ist alles so wie es ist. Die Frage ist, was machen wir daraus und was könnten wir anderes tun. Das Potential der Kunst ist, dass sie nichts final vereinnahmt oder einschließt. Sie birgt eine Einsicht in die Unmittelbarkeit dessen, was geschieht, wie wir sind, was ist.
Was uns als Professionelle in diesen Tagen auszeichnet, ist unsere Erfahrung, unser Wissen, damit unsere Sicherheit und Gelassenheit im Umgang mit diesen Situationen, denn wir kennen diese Nebelräume absolut, wo sich das Neue immer aus dem Suspendieren von Routinen zeigt, entwickelt, entäußert… Wir wissen aus Erfahrung und geschulter Wahrnehmung, wie diese Prozesse funktionieren. Wir lieben, atmen und brauchen diese Prozesse. Sie sind nie einfach. Sie sind beunruhigend, anstrengend, mitunter verunsichernd, suchend; dabei sexy aussehen ist auch oft schwer. Aber: Es lohnt sich, es ist geradezu berauschend, wenn aus so einem in Frage stellen von Gegebenem etwas Neues entsteht. In solchen Prozessen erahnen wir, wie wenig wir unser zur Verfügung stehendes Potential im Alltagsleben nutzen. Da ist unendlich viel Luft nach oben. Und über uns befindet sich der kondensstreifenfreie unendliche Raum, in den wir alle unsere Köpfe recken.
Ich wünsche mir keine öffentlichen Beileidsbekundungen, ich wünsche mir, dass wir bei diesem komplexen Prozess des Umdenkens in diesem Potential be- und gefragt werden, dass man uns hinzuruft und einlädt, unsere Kenntnisse zu teilen. Erkannt hat das zum Beispiel das IASS (https://www.iass-potsdam.de), die Künstler und Künstlerinnen in den Austausch hinzu laden, wo alle Quellen des Erfindungsreichtums und der Inspiration aus Wissenschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gesammelt und in einen Dialog gebracht werden, um die Nachhaltigkeitsherausforderungen unserer Zeit anzugehen. Hier sind wir in unserer Kompetenz gefragt!
„dass wir bei diesem komplexen Prozess des Umdenkens in diesem Potential be- und gefragt werden, dass man uns hinzuruft und einlädt, unsere Kenntnisse zu teilen.“… 1989_90 war ein Großteil der Mitglieder der Bürgerbewegung aus künstlerischen Berufen…Uns wurde zugehört, es wurde Tag und Nacht diskutiert- und natürlich demonstriert. Künstler verfassten die ersten Aufrufe und Programme des Neuen Forum, malten Plakate, Transparente…Dann ging die Mauer auf- und niemand hörte mehr zu.
Alle Ideen einer neuen Gesellschaftsform, die wir vorher nächtelang besprochen hatten, interessierten niemanden mehr.