Der Raum ist erfüllt von einer ruhigen und konzentrierten Stimmung. Heute, es ist der 23.05.2020, findet der zweite Tag der literarischen Raumerkundung von Angelika Sinn statt.
Es ist ein warmer, aber eher schwüler und irgendwie insgesamt ein ruhiger Tag. Alles wirkt heute weniger hektisch. Vielleicht kommt mir das aber auch nur so vor, weil ich die Teilnehmenden der „Litertour-Tour“ nun schon eine Weile beobachte und von ihrem Stuhlkreis irgendwie eine auffällige Ruhe ausgeht. Die Gruppe kennt sich erst seit dem gestrigen Workshop-Tag, aber sie wirken auf eine wirklich schöne Art vertraut miteinander. Sie sitzen im Kreis um einen großen Tisch herum, der in der Rheydter Projektzentrale aufgebaut worden war. Sie alle tragen Masken und sitzen mit dem nötigen Abstand zueinander mit Zetteln in der Hand auf ihren Stühlen. Der Abstand zwischen den Einzelnen scheint ihr Gruppengefüge keinesfalls zu stören. Im Gegenteil: Fast wirkt es so, als hätte so ein jeder den Platz um sich herum, den es braucht, um den eigenen, privaten Gedanken, die sich im Laufe des Workshops entwickeln könnten bereits von vornherein den Raum geben zu können, welchen sie gegebenenfalls brauchen würden. Während die Textkünstlerin Angelika Sinn noch einmal resümiert, welche Übungen am Vortag durchgeführt wurden, um die eigene Wahrnehmung zu schulen und die Sinne in Bezug auf den Umraum zu schärfen, hört die Gruppe interessiert und konzentriert zu. Nacheinander tragen die einzelnen Teilnehmer*innen noch einmal die literarischen Fragmente vor, welche sie im Laufe des vorigen Tages entwickelt hatten. Noch wirken die Gedanken eher wie Splitter und Fetzen, die sich noch nicht ganz zu einem Ganzen fügen wollen. Daran solle heute weiter gearbeitet werden. Konzentriert und respektvoll hören sie einander zu, fühlen sich in die Textsplitter ein und kommentieren einander die wahrgenommenen Realitäten des Vortages.
Teil der Gruppe ist unter anderem eine junge Textildesign-Studentin, ein mitten im Berufsleben stehender Ingenieur und Vater, sowie eine Rentnerin, die mit ihrem eigenen Text gar nicht glücklich zu sein scheint und sagt, dass sie für „so etwas“ noch nie Worte finden musste. Der Rest der Gruppe ist total angetan von ihrem besonderen Blick auf den Baum, vor dem sie saß und den Schuhen, die sie in ihrem Text beschrieb, während sie dort gesessen hatte.
Trotzdem, oder vielleicht auch gerade weil die Gruppe so divers und heterogen ist, erscheint sie mir bemerkenswert einfühlsam und offen. Jeder einzelne der Workshops zeichnete sich bisher durch eine andere Eigenheit aus und alle unterscheiden sich bisher stark in ihrer Gruppenstruktur – manchmal nur in feinen Nuancen, manchmal auffallend stark. Dieser Workshop mag von außen zunächst den Anschein erwecken zu können, dass die Teilnehmenden doch „nur“ im Kreis säßen und miteinander sprachen. Wenig Action. Vielleicht hatte man sich unter einer Literatur-„Tour“ doch viel mehr Bewegung versprochen. Doch was hier passierte war viel mehr, als der äußere Anschein zunächst verlauten ließ und innerlich schien sich in diesen zwei Tagen bei den Workshop-Teilnehmenden enorm viel bewegt zu haben. Denn ausgerechnet weil diesen Menschen die Zeit eingeräumt wurde, sich doch endlich einmal „nur“ hinzusetzen und nach der eigenen Wahrnehmung zu horchen, einfach „nur“ zu fühlen, zu schmecken, zu riechen und zu sehen, was doch allzu selbstverständlich sein sollte, wurde inmitten dieser Runde ein Feuerwerk der Eindrücke entzündet. Von außen saß diese Gruppe an verschiedensten Menschen „nur“ im Kreis beisammen und es passierte äußerlich vielleicht nicht viel. Als ich mich aber in diesen Kreis dazu setzen durfte und den Personen wirklich zuhören konnte, befand ich mich urplötzlich in einem wilden und bunten Strom aus Gedanken!
Manchmal muss man einfach versuchen selbst die Zeit etwas langsamer vergehen zu lassen. Sich einfach hinsetzen, auf einen kleinen, bestimmten Flecken Erde. Und sich dann dort ganz auf seine Sinne einlassen. Erst dann wird einem wieder klar, was im alltäglichen Gerenne und Gerede wohl allzu oft und immer wieder in Vergessenheit gerät, obwohl wir es doch eigentlich alle jeden Tag mit uns herumtragen: Oft vergessen wir unseren eigenen Körper, der doch ein einziger und unfassbar bewundernswerter Resonanzkörper ist! Denn wir sind mit all unseren Sinnen ein so komplexes und schwingfähiges System, dass alles, was auf uns einwirkt einen Widerhall in uns und vielleicht auch um uns erzeugt. Wir tragen uns und unserer Umwelt eine gewisse Verantwortung gegenüber. Mit unserem Körper und unseren Sinnen können wir nicht nur Schwingungen aufnehmen, sondern auch erzeugen, die an anderer Stelle Resonanzen hervorrufen können. Das sollte man niemals vergessen…