Anschließend an einen Besuch in der offenen Redaktionszentrale in Leverkusen und anlässlich des Erscheinen der künstlerischen Zeitung „BouLEVardt Gazette“ sinniert und resümiert die Künstlerin Susanne Bosch über das Medium Zeitung und sein Faszinosum für die Künste. Der dabei entstandene Text verwebt Überlegungen zu den Spezifika des Mediums mit historischen und aktuellen Beispielen aus den Künsten bis hin zu deren politischen und gesellschaftlichen Dimensionen. Susanne Bosch beschäftigt sich in ihren eigenen Arbeiten mit den wichtigen Fragen der Zeit, mit Begriffen der Demokratie und Nachhaltigkeit. Die Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft begleitet sie in vielen Projektkontexten seit vielen Jahren als critical friend.
Ausgerechnet eine Zeitung dient als ästhetisches Vehikel, um die zukünftigen Wünsche der Leverkusener*innen den Menschen in der Welt mitzuteilen. Genau! Eine auf Zeitungsdruckpapier mit kurzer Lebensdauer gedruckte Bild- und Textwolke aus Wünschen für Leverkusen. Die Wünsche befinden sich auf einem vergänglichen Papier, dass morgen schon im Katzenklo ausgelegt werden kann.
Faszination Vergänglichkeit
Woher kommen die ungebrochene Wahl und Faszination der Bildenden Künste für gedruckte Zeitungen? In welcher künstlerischen Tradition stehen sie? Ich beginne mit dem Material. Zeitungspapier ist die verbreitetste Form von Papier, ein echtes Alltagsprodukt. Die attraktiven Qualitäten des Materials sind, dass es preiswert, umweltverträglich sowie massenhaft und vergänglich ist. Es ist gut falt- und handhabbar. Es ist leicht und fragil, es verfärbt sich schnell, es reißt ruckzuck und ist nicht wetterbeständig. Aber es hat gute Druckeigenschaften wie zum Beispiel einen hohen Grad an Farbechtheit. Es wird zu einem großen Teil aus recyceltem Altpapier hergestellt. Vergänglichkeit ist es also.
Die Ästhetik von Zeitung
Generationen von Leser*innen haben die gestalterischen Grundlagen von Zeitungen wie Satzspiegel, Seitenraster und Typographie verinnerlicht. Mit einem „Raster“ arbeiten ist DAS Designprinzip einer Zeitung. Es folgt bis heute der idealen Proportion des Künstlers Villard De Honnecourt, 13. Jahrhundert, an das sich unsere Augen zu Orientierung gewöhnt haben. Der eigentliche Gestaltungsspielraum liegt im Gestaltungsraster des Zeitungslayout. Die gestalterische Freiheit, will man nah an der Idee von Zeitung bleiben, ist somit limitiert. Das ist kein Nachteil, denn das Grundsystem ist ausgeklügelt und erstaunlich flexibel. Sehgewohnheit ist es also.
Die wichtigen Nachrichten der Tagespresse
Meldungen, die es in die Zeitung und damit breite Öffentlichkeit schaffen, sind wichtig. Sie haben sich gegen viele andere Meldungen durchsetzen können. Diese allgemeine Annahme machen sich Künstler*innen zunutze und bringen so ihre wichtigen Wahrheiten in die Öffentlichkeit. Der Künstler Gustav Metzger hat sich intensiv mit Zeitungsinhalten und Zeitungspapier auseinandergesetzt. Sein zentrales Werk „Mass Media: Today and Yesterday“ (1971/2009) ist ein fast raumfüllender Stapel alter Zeitungen in Tragetaschen, der eine Art monumentalen Sockel bildet, der nichts anderes trägt als das Gewicht der Geschichte, das sich in der Flut des Geschwätzes auf den Tausenden von Seiten zeigt. In einem von Metzger vorgegebenen partizipatorischen Element haben 2009 die Besuchende der Londoner Serpentine South Gallery neue Zeitungscollagen auf die umliegenden Wände geklebt, die sich über aktuelle Ereignisse lustig machen.
Die irische Künstlerin Deidre O’Mahony startete 2024 ihr Projekt „The Quickening“ und damit auch eine Zeitung, in der Bäuer*innen, aber auch Bakterien und Käfer mit ihrem Beitrag zur Lebensmittelversorgung zu Wort kommen.
Die ZIP-Gruppe veröffentlichte 2023 eine 1. Auflage „Tanz auf dem Vulkan“, eine Zeitung, die über den Zustand von Menschen berichtet, die aufgrund der politischen Lage Russland verlassen mussten und nun ihr Leben im Exil in Angst und einem ständigen Gefühl von Gefahr verbringen.
„Cycle“ ist eine Zeitung aus Beirut. Der Zeitpunkt der Herausgabe liegt in der Zukunft, im Jahr 2035. Die Gruppe Tarkib, die hiermit eine unabhängige Kunstzeitung startet, berichtet mit Kunstwerken aus einer Zeit, in der Menschen sich sicher fühlen und ohne Angst, (aus-)gelöscht zu werden.
Auch ich habe bereits oft mit Zeitungen gearbeitet. So ergänze ich gerne die aktuellen Nachrichten. Ich drucke auf und über Nachrichten oder schneide Worte und Sätze aus dem Papier, z.B. in und mit Zeitungen aus Nordirland, der Westbank und Malaysien zu Themen wie Konflikten, verschwundenen Flugzeugen oder Wert von Bildung in Zeiten von Krieg und Krise. Die Kunstzugabe ANDERE MENSCHEN FÜHLEN mit 17.000 Exemplaren lag im Mai 2022 der Wochenendausgabe der taz bei. Die Zeitungsbeilage listet in einer subjektiven Momentaufnahme 48 Initiativen, Projekte und Aktionen auf, in denen zum Teil sehr bewegende Gesten der Solidarität beschrieben werden. Der Text ANDERE MENSCHEN FÜHLEN ist in das Zeitungspapier gestanzt. Die Leser*innen konnten das Kunstwerk vollenden, indem sie die gestanzten Buchstaben herausklappen und somit die gefühlte Verbindung zwischen der Innen- und der Außenseite des Kunstwerks auf sich wirken lassen.
Schließlich begann die irische Künstlerin Kate O’Shea 2022 eine populäre Boulevardzeitung „Gravity Express“, um Erkenntnisse ihres Mentoring-Prozesses mit Dr. Ciarán Smyth zu veröffentlichen, in denen sie ihre Erfahrungen mit sozial engagierter Kunst im öffentlichen Raum teilt. Gravity Express #1 fokussiert sich auf den Herzschmerz dieser Praxis und konzentriert sich auf die Brüche, Übergänge und Neuformulierungen im Laufe von Kates anhaltendem Engagement für Kunst und Aktivismus. Die große Bühne für die wichtigen Nachrichten ist es also.
Nachrichten mit der Aktualität von einem Tag oder kürzer
Noch gibt es gedruckte Zeitungen weltweit. Dieses Format ist global Träger aktueller Tagesnachrichten in Bild und Text, Weltnachrichten, die am nächsten Tag schon obsolet erscheinen können. Warum fasziniert Künstler*innen diese erbarmungslose Vergänglichkeit, wo ihnen doch die Inhalte so fundamental wichtig erscheinen? Ich vermute, wir alle möchten von der erwiesenermaßen nutzlosen neo-liberalen Erzählung, was unser Überleben sichern würde, die Aufmerksamkeit auf unser herzliches, imaginatives, konviviales und solidarisches Vermögen lenken. Alle reden von den neuen Narrativen, die wir für das gute Leben für alle in Zukunft brauchen. Kunst ist nicht außerhalb dieser Entwicklungen zu denken. Kunst will eine Rolle bei der Kreation dieser Zukunftserzählung spielen. Die künstlerische Tätigkeit findet immer innerhalb der bestehenden Produktionsweise statt, reproduziert sie oder fordert sie heraus, erhält oder zerstört sie. Die künstlerische Tätigkeit ist ein Modus, eine singuläre Form der Arbeitskraft im Kontext seiner sozialen, geographischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen. Antonio Negri beschrieb 2008 in seinem Vortrag “Metamorphoses, Art and Immaterial Labour “, wie abbildhaft zu den gesellschaftlichen Konditionen sich die künstlerischen Tätigkeiten historisch zu den Formen der kapitalistischen Produktion und Arbeitsorganisation entwickelte. Die künstlerische Entwicklung beschäftigt sich im Moment zwangsläufig mit der internen Architektur der Netzwerke materieller, affektiver und kognitiver Produktionsweisen.
Antonio Negri beschreibt die Arbeitenden (also auch die Künstler*innen) als ein Schwarm von Einzelnen, die im Gemeinsamen konvergieren und dabei ihre Freiheit bewahren wollen. Der Höhepunkt liege in einer Konstruktion der ethisch-politischen Grenze des Gemeinsamen, wenn die Erfahrung des Gemeinsamen freie und reiche Lebensformen zum Ausdruck bringe. Negri sieht die Kunst als dasjenige, was sich nicht von den Machtverhältnissen „disziplinieren“ lässt, sondern Formen des gelingenden Gemeinwohls (Commoning) als Konsequenz aus der globalen (Arbeits-)Entwicklung sucht. Kreativer Widerstand ist es also.