Wo landet man eigentlich, wenn man ins vielzitierte „Land der Träume“ reist? Wir haben die Autorin des nachfolgenden fantasievollen Textes eingeladen, ihren assoziativen Impulsen zum Thema „Träumen“ zu folgen. Durch ihren literarischen mit philosophischen Randnotizen bespickten Text nimmt sie uns nun buchstäblich mit auf eine Reise in ein Land zwischen Wirklichem und Möglichem. Ist das womöglich das Reich der Träume?
Die in Köln lebende Teresa Stoller hat Philosophie und Kunst studiert, schreibt Texte und ist als Sängerin und Darstellerin selbst künstlerisch tätig. Von der geisteswissenschaftlichen Arbeit zur künstlerischen Existenz zu kommen, war für sie selbst ein Schwellenakt des Träumens zwischen Idee und Wirklichkeit. Das „Dazwischen“ in jeglicher Hinsicht und das Gegensätzliche im Menschen haben sie seit dem Studium fasziniert.
Es gibt ein Königreich, das ist ganz ohne Grenzen, und doch voller Schwellen. Sein Volk ist quicklebendig, und doch schwer zu fassen. Kein Mensch hier hat einen Namen, und ich bin einer davon. Im Norden liegt die Hochebene des angrenzenden Landes. Niemand war je dort. Aber alle flüstern sich die Geschichten ins Ohr, die die Alten seit Generationen schon weitergeben: von der Goldkönigin mit den türkisen Augen, vom Pelikan, der Trauben und Feigen bringt, und dem Meer der Gerechten.
Wer dort zehn Zentimeter größer sein will, wächst einfach. Wer eine gute Freundin braucht oder wer nicht sterben will oder wer Hunger ha — Huch! Siehst du das kleine Menschlein mit der roten Jacke, das gerade drüben in der Gasse verschwindet? Es ist der Herrscher unseres Reiches. Vielleicht auch Herrscherin, niemand hat je mehr als den Jackenzipfel gesehen. Man weiß nur, dass die Eltern unseres Königskindes wohl das erste Liebespaar aus beiden uns angrenzenden Gebieten gebildet haben müssen. Unterschiedlicher könnte das Paar nicht sein. Der Vater kam nämlich aus dem Norden, aus jenem Land namens Poros, in dem alles möglich ist. Die Mutter hingegen kam aus der Region südlich des Salzsees. Aus dem Land, das Penia heißt, und in dem alles wirklich ist. Dreht man in Penia einen Stein um, ist es immer noch ein Stein. Pflanzt man einen Samen, und kehrt vier Wochen später zurück, liegt da ein Samen. Alles ist, was es ist, und niemand würde sich etwas anderes vorstellen.
Ich muss euch ein Geheimnis verraten. Ich bin die erste, die aus dem königlichen Zwischen-Reich spricht. Ich mache mir so meine Gedanken. In Penia sind die Leute zufrieden, denn sie wissen nicht, was sie nicht haben. In Poros sind die Leute zufrieden, denn es gibt nichts, was sie nicht haben können. Wo wärest du glücklich?
Die Wahrheit ist: In Penia und in Poros werden alle irgendwann ganz träge, nichts bewegt sich mehr, die ersten sind antriebslos, denn nichts stört sie und nichts lockt sie. Die zweiten fühlen sich vor lauter Fülle bald unendlich gelangweilt. Viele verharren einfallslos auf ihren Plätzen, ein Leben lang. Man stelle sich vor: Zwei Komma sieben Zentimeter pro Stunde ist laut einer Langzeitstudie die Durchschnittsgeschwindigkeit beider Völker.
In unserem Reich, oh, da gibt es viel Bewegung. Sie hasten und huschen durch die Straßen, die Leute hüpfen, hechten und stolzieren von hier nach da, sie krabbeln durch Schlupflöcher und tänzeln durch die Nacht. Viele wirst du mit einem Lächeln antreffen. Manche haben die Augen weit aufgerissen, andere scheinen zu schlafwandeln. Arbeit hat keiner, aber wir sind schwer beschäftigt. Wie? Was wir den ganzen lieben langen Tag tun? Ach. Wir träumen.
Wer sich hier bei uns, zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen ansiedelt, ist mutig. Und sportlich, denn die größeren und kleineren Schwellen lauern in diesem Zwischen-Land an jeder Ecke. Über die Kluft zu springen, die das Bisherige vom Zukünftigen trennt, will gelernt sein. Es gibt regelrechte Turniere. Als wirklich kunstvoll Träumende gilt eine, die es schafft, die im Absprung gepflückten Gräser der Vergangenheit im akkuraten Zenit-Salto loszulassen und trotz Fallhöhe mit einem ehrlichen Lachen auf der gegenüberliegenden Seite aufzutreffen. Beinharter Gradmesser dieses psycho-physischen Kunstsports ist die Angst. Hast du zu viel davon, erstarren deine Glieder noch beim Absprung. Es braucht die genau richtige Portion gut ausgehaltene, durchsprungene Angst, um sich in federnder Aufregung ins Ungewisse aufzumachen.
„Bist du noch, oder träumst du schon?“ fragen die Leute bei uns, vor allem, wenn sie wissen, wie es im nüchternen Land Penia war. Unsere Hochkultur des Träumens fußt, so sagen die Gelehrten, auf der tief menschlichen Begabung zum Seiltanzen. Das weiß hier jedes Kind. Kaum geboren, auf ein Seil gesetzt, beginnt das wackelige Abenteuer: Du weißt ungefähr, woher du kommst, ungefähr, wohin du willst – Achtung, Traumzielpunkte ändern sich! – dazwischen steht nichts fest. Gegensätze, das lernt man dann auch schnell, stehen sich nur als Worte gegenüber. Oben ist unten und andersrum, und wer nichts sterben lässt, erlebt auch nichts neues. „Sei skeptisch, wirf die Klötze um. Aber wie ein Kind!“ Sentenz meiner traumerfahrenen Großmutter. Traumaktiv wird der Mensch erst, wenn er wagt zu begreifen, was fehlt. Als traumfähig gilt er dann, wenn er die unendliche Leichtigkeit besitzt, ein noch nicht bestehendes Gebilde für das Fehlende zu bauen.
Ich will ehrlich sein, auch wir fressen die Weisheit nicht mit Löffeln. Etwas Fachbildung brauchen alle. Auf der Primärstufe steht ein mehrjähriger Besuch auf der Schule der Veränderung. Um überhaupt zu begreifen, dass nichts ist, wie es scheint. In der Sekundarstufe wird es knifflig. Sämtliche Seminare zum Übergang von Idee zur Realität und dessen krisenfreie Bewältigung kosten uns die traumzarten Nerven. Denn das ist knallhartes Business. Es bereitet uns auf den Seiltanz in der freien Lebenswirtschaft vor, wo es nur so wimmelt vor fremden und eigenen Träumen und deren Umsetzungsversuchen, die schüchtern, übermütig, kläglich oder kühn ausfallen. Hier scheidet sich nochmal das Korn vom Weizen – oder der Traumschläfer vom Traumgänger, wie es im Volksmund heißt. Zahlreiche, staatlich subventionierte Nachhilfeangebote gibt es im Fach Scheitern. Wem hier die Übung fehlt, wagt schnell nichts mehr, wird später melancholisch oder gar zynisch.
Oh, wir sind ein leidenschaftliches Volk! Wir sind Philosophinnen und Philosophen, lesen Platons Symposion schon im Kindergarten, und finden die schönsten Orte, um unserer Arbeit nachzugehen. Wir träumen auf Felsspitzen am Meer, wir träumen im Café in der Altstadt, in der Warteschlange am Schalter, wir träumen gelegentlich zusammen und manchmal auch rückwärts.
Weil Worte uns begrenzen, wird viel gemalt. Vom Träumen zu berichten ist schwer, denn das Träumen ist per se sprachlos. In dem Raum ohne Sprache ist so vieles mehr möglich und alles reizvoller, ganz numinos, aber groß. Worte finden fühlt sich da manchmal an wie einen Zaun zu bauen. Ich schreibe hier, nun, weil mein Traum war, den Menschen von unserem Land zu berichten. Ich weiß nicht, ob alle wissen, dass es existiert. Es gibt so viele Länder, auch hinter Poros und ferner als Penia. Unser Reich ist etwas versteckt, zwischen dem schier endlosen Salzsee und diesseits des hohen Gebirges. Ich finde, jeder und jede sollte mal einen Fuß auf unser Land setzen. Wir sind sehr gastfreundlich, zeigen euch, wie der traumkunstvolle Zenit-Salto geht. Oder, naja, für den Anfang: wie man ein Fantasie-Rad schlägt.
Teresa Stoller
Für „Leverkusen, wovon träumst du?“
Juli 24