Die Presse steht pünktlich um 14 Uhr vor dem Ladenlokal in der Rheydter Hauptstraße: Redakteurin und Fotograf. „Wo ist denn der Teppich?“ Wir hatten erst gegen 16 Uhr mit den Gästen unserer Finissage von „Neuland“ gerechnet. Also schnell den Teppich aus dem Ladenlokal gerollt – und zum allerersten Mal längs und mittig in der Fußgängerzone zwischen Skaterclub, Baugerüst, Reisebüro, Café und türkischem Nachbarschaftsverein ausgelegt.
Dort liegt er nun. Stolze 30, 33 oder 35 Meter lang, aus zahlreichen Stoffen, Kleidungsstücken, Kuscheltieren, Decken und anderen Gewebestoffen innerhalb von drei Monaten von vielen Menschen hergestellt. Er macht sich imposant und fremdartig zugleich da auf den grauen Pflastersteinen. Umgeben ist er von weißen Klebebandmustern aus dem Workshop des Essener Künstlers Tim Cierpiszewski und den farbigen, dicken Styropor-Platten aus der Veranstaltung der ortsansässigen Künstlerin Christiane Behr. Gemeinsam markieren sie ein Stück neuen Weges. In nächster Nachbarschaft stehen in hölzernen Rahmen die Instrumente der Sculpturetones – Klangskulpturen aus Alltagsgegenständen, die zum Experimentieren einladen.
Außerdem stellen wir eine große Arbeitsplatte auf Böcken mit Stühlen und Hockern in Verlängerung des Innenraums des Ladenlokales in die Fußgängerzone. Wie schon in den vergangenen zwölf Wochen möchten wir allen, die gezielt oder zufällig bei uns vorbeikommen, die Möglichkeit geben, mitzumachen. Da ist manchmal ein freundliches Lächeln, manchmal ein Sitzplatz ausreichend, um sich willkommen und wohlzufühlen.
Ein Teppich liegt auf der Straße.
Der lange, dicke und fremdartige Teppich zieht heute natürlich alle Aufmerksamkeit zuerst auf sich. Sobald er in seiner vollen Pracht ausgerollt ist, kommen immer mehr Menschen. Die Finissage hat sich quasi von selbst eröffnet – und nicht wie gedacht erst um 16 Uhr – für manche Teilnehmerinnen des Projektes sehr bedauerlich, die an diesem besonderen Moment des „Teppich-Ausrollens“ teilhaben wollten.
Vor dem Ladenlokal sitzend, können wir doch interessante Situationen beobachten, wie sich die Passanten dem Teppich nähern: Nach dem ersten Fuß, der den Teppich berührt, erst vorsichtig tastend, dann mutiger wippend, trauen sich gleich mehrere Menschen, den Teppich zu betreten. Sie laufen darüber, setzen oder legen sich für eine kurze Pause darauf. Wenn sie weitergehen, ist der Teppich vom Gebrauchsgegenstand wieder zum Ausstellungsstück geworden. Die Passantinnen und Passanten werden langsamer, schauen und bewundern bedächtig, halten aber eine respektvolle Fußlänge Abstand.
Geschichten weben
Im Ladenlokal selbst findet sich das Stoffarchiv, der Index der zum Teppichweben verwendeten Stoffe. Hier haben wir alle Geschichten, die uns zu den abgegebenen Textilien erzählt worden sind, in einer Kurzfassung mit einer Stoffprobe auf einer Karteikarte zusammen an die Wand gehängt: von Erinnerungen an den letzten Urlaub, alten Bettlaken, noch tragbaren Hosen, lange vergessenen Kostümen. Aber auch von verflossenen Liebschaften, verpassten Chancen und verstorbenen Verwandten. Kleine und große Stücke des Lebens: Hinter jedem Stück Stoff, die jetzt zusammen den langen Teppich bilden, steht ein Mensch mit seiner Geschichte.
Und diese Geschichten verweben sich wieder zu einem Teppich, in dem nicht nur die Textilien einen neuen Sinn erhalten, sondern in dem auch die Geschichten gut aufgehoben scheinen – sonst hätten nicht so viele, ganz unterschiedliche Menschen uns sehr vertrauensvoll ihre Stoffe, die auch der Stoff des Lebens sind, anvertraut.
Junge Komponisten auf der Bühne
Das offizielle Programm startet dann pünktlich mit einem humorvollen performativen Konzert der Sculpturetones, die auf Blasebälgen mit merkwürdigen Klangrucksäcken vom Markplatz über die Hauptstraße ins Ladenlokal wanken, von vielen Schaulustigen begleitet. Das sind die Klangkünstler und Musiker Axel Schweppe und Wolfgang Stamm aus Köln und Wiesbaden. Gemeinsam mit drei Dauerteilnehmerinnen und -teilnehmern – geschätzt zwischen 7 und 14 Jahre alt – führen sie auf der Empore des Ladenlokals mehrere eingeübte und improvisierte Stücke auf. Sie spielen auf Töpfen, Metallschalen und Trommeln. Auch die Miniaturform der Trommel, die Maultrommel kommt zum Einsatz. Partizipativer und emotionaler Höhepunkt ist das Lied, das die drei Kinder selbst komponiert haben, inklusive Liedtext. Das Publikum singt mit – und nahm nach dem Konzert die Instrumente selbst in die Hand.
Der Kölner Klangkünstler Harald Sack Ziegler stand mit seinem Waldhorn zwar relativ unsichtbar auf der Empore des Ladenlokals, das wie gemacht schien als „Bühne“ für die Instrumente und die Menschen, die sie spielen, wob aber seine Klänge professionell mit in das musikalische Gesamtensemble.
Ebenfalls fanden seine Klänge Eingang in die Lesung von Texten, die bei der in Bremen ansässigen Literatin Angelika Sinn entstanden waren, von den Autorinnen selbst gelesen wurden und die passend zum Workshoptitel „Gegenstände zum Klingen bringen“ in einen Rahmen der Musikinstrumente integriert wurden.
Nebel und Dunst
Danach ist die Uraufführung von „Steam & Haze“ angekündigt. Der Düsseldorfer Künstler Oliver Gather war bereits Anfang April als Artist in Residence in die Rheydter Hauptstraße gezogen, um sich der Nachbarschaft und den Menschen auf seine Weise zu nähern und nach künstlerischen Fragestellungen zu suchen. Dabei hat er einen Film über drei besondere Orte der Straße gedreht: das Café Heinemann, die Vapers Lounge und den Platz auf der Straße vor dem Café, an dem fast jeden Tag eine obdachlose Frau mit ihren Hunden sitzt und Menschen in allen Lebenslagen berät.
Für die Filmmusik konnte Oliver Gather die Musikerinnen von Loom of a 3 (Frauke Berg, Anja Lautermann aus Düsseldorf und Echo Ho aus Köln) gewinnen, die bei der musikalischen Arbeit am Film feststellten: Das müssen wir uns selbst anschauen. Also organisierten sie parallel zur Finissage ein Konzert/Sit-in in der Vapers Lounge, das ein bemerkenswertes visuelles und elektronisches Ereignis war mit Klängen, die bestimmt zum ersten Mal so an diesem Ort auftauchten, aber die verschiedensten Assoziationen erlaubten, wozu auch der ausgiebige Gebrauch der Nebelmaschine beigetragen haben mag.
Für die zahlreichen und zum Teil besonderen Gäste war dieser Film ein großartiger künstlerischer Einblick in die Rheydter Hauptstraße und ihre unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten, den es bestimmt noch häufiger zu sehen geben wird.
Bis zum Ende der Finissage kamen viele bekannte und unbekannte Menschen in das Ladenlokal und mit uns und untereinander ins Gespräch. Auch über die vielen Werke, die neben dem Stoffarchiv Spiegel und Wände zierten und die allesamt von Teilnehmenden des Projektes auch außerhalb unserer Workshopangebote erstellt wurden und so Eingang in die Gesamtpräsentation finden.
Viele stellten nicht nur zum Schluss die Frage: Was wird mit dem Teppich? Und: Kommt ihr wieder?
Wir verraten hier gerne so viel: Fortsetzung folgt.