Berg in den Wolken. Foto: Lucian Lechler.

Gedanken zur Zeit

am 24. Oktober 2023 | in Allgemein, Diskurse, Pirmasens 2023, Resonanzen | von | mit 0 Kommentaren

Wovon träumst du? Im Rahmen von PS: Pflasterstein Paradise waren die Menschen eingeladen, die Zukunft ihrer Stadt zu imaginieren und ihre Visionen zu teilen. Der Protagonist der folgenden poetischen Geschichte von Lucian Lechler sinniert darüber wie er und die Gesellschaft die Lust am Träumen verloren zu haben scheinen. Sie könnte aber ebenso als Aufruf verstanden werden wieder mehr und entschiedener zu träumen!
Lucian Lechler ist Absolvent der Alanus Hochschule und studierte den Studiengang „Philosophie, Kunst und Gesellschaft“. Derzeit befindet er sich in einer Phase des Umbruchs und legt seine Gedanken in die literarische Figur namens Erik, die Protagonist einer Erzählreihe ist.

 

Im Zug in Sizilien, 2018. Foto: Ruth Gilberger.

Mensch ist das Leben schnell geworden, dachte Erik, als er im Schnellzug in Hebbels Tagebuch las:

 

Mittags fuhr ich auf der Eisenbahn per Dampf nach Fürth, Hänschen auf dem Schoß. Die Bewegung ist von steigender Geschwindigkeit; wie schnell es geht, bemerkt man am besten, wenn man gerade an einem Gegenstand vorüber kommt, Meilensteine, Bäume, Häuser verschwinden, wie sie auftauchen.

Hebbel, Friedrich (1996): Tagebücher.

 

Und wir? Wir rauschen durch die Jahre und kommen… Kommen wir jemals an? Wie viele Träume begraben wir, bevor wir die fragilen Bilder zu einem bunten Kaleidoskop verknüpft haben? Erik würde gerne mehr träumen. Doch was, wenn er scheitern würde? Das ganze Glück, verpufft in einer Wolke aus Mehltau. Und dann, da war noch etwas, dass ihn zurückhielt: Es war das ewige Narrativ der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung, das auf dem Rücken der Radiowellen, TV-Bilder und Litfaßsäulen in das Leben aller Einzug erhalten und ihm die Lust und Freude am Träumen fast völlig ausgetrieben hatte. Dieser Traum war keine Utopie, kein Wunsch, keine Möglichkeit oder gar eine Verheißung, vielmehr ein Imperativ, der das Traumhafte, ja, das Fantastische verloren hat; es war ihm, als ob er, Erik, eine klare Vision seines Lebens haben müsste, dabei wusste er noch nicht einmal, wo er das nächste halbe Jahr verbringen würde. Jetzt war er hier, doch wo in einer Woche oder in einem Monat. Er wusste also weder wo er sein, noch was er tun würde: bescheidene Aussichten. Kurz, die Traumindustrie die er so nannte, weil sie ständig neue Träume ausspuckte, hatte ihm die Lust am Träumen fast völlig verdorben. Nun hatte er keine großen Träume mehr, stattdessen lebte er traumlos und hoffte höchstens, Träume zu haben. Dabei waren Träume doch etwas ganz Persönliches, ja, Intimes, das dem Leben eine Richtung gab, eine räumliche und zeitliche Tiefe. Nebulös, vielleicht, aber wegweisend.

 

Im Zug in Sizilien, 2018. Foto: Ruth Gilberger.

Heute spricht niemand mehr vom Träumen, sondern vom Entwurf. „I have a Dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of it’s creed.“, verkündete Martin Luther King 1963, „we hold these truths to be self-evident, that all men are created equal“. Ein Traum von Hoffnung getragen, der klarer hätte kaum sein können und der sich doch auf unbestimmte Zeit hin entfalten sollte. Der Traum kokettiert immer mit Anachronismen, dem Ephemeren und Asynchronen, er beschwört das Zukünftige in der Gegenwart und zieht zugleich die Gegenwart in die Zukunft hinein. Der Entwurf jedoch sucht seine Entsprechung in einer berechenbaren Zukunft und in konzentrierter Vergangenheit und Gegenwart. Was war aus all jenen geworden, die selbst die Hoffnung vom Träumen aufgegeben, oder die ihre eigenen denen der Traumindustrie angeglichen hatten?

 

Wir sitzen alle im gleichen Zug

und reisen quer durch die Zeit.

Wir sehen raus. Wir sahen genug.

wir fahren alle im gleichen Zug.

Und keiner weiß, wie weit.

[…]

Der Zug, der durch die Jahre jagt,

kommt niemals an sein Ziel.

Kästner, Erich (1936): Lyrische Hausapotheke.

 

Die Unbekümmertheit und Teilnahmslosigkeit, die ständige Überreizung und das perspektivlose Treiben, das Moment des indifferent Asynchronen, die Moral der lebenden Toten, all das, das aus Kästners Gedicht Das Eisenbahngleichnis hervorgeht, das war es, was er nicht leiden konnte. Es konnten Häuser einstürzen, Menschen darunter begraben werden, man räusperte sich, dann zeigte man für einen Moment Pietät und dann ging man wieder über zu den Dingen, die man so tat, weil man sie so tat und machte Bewegungen, die man so machte, weil man sie eben so machte; nur das Wozu, das fragte keiner. Vielleicht befragte man sich selbst, stillschweigend, wagte jedoch weder öffentlich nachzufragen und für etwas mit Leib und Seele einzustehen, noch die Produktionskette für einen Moment außer Kraft zu setzen, um etwas – wie einem suggeriert wurde – sinnloses zu tun.

Die Bewegungen dienten zunehmend einem fremden Zweck und der Strom der Bewegung riss nie ab. Des Abends, wenn die Menschen aus der Fabrik nach Hause kamen, dachte Erik, so würden sie die gleichen Bewegungen beim Kochen, Glühbirne wechseln, Staubsaugen oder Rasenmähen fortführen, die sie tagsüber getätigt hatten; selbst jene, die sich vor den Fernseher setzten, machten nichts anderes, als während ihrer Arbeitszeit; sie starrten auf einen Bildschirm. Es war, als würden die Handlungen sich von der Arbeit entkoppeln und auf die private Sphäre ausweiten, als gebe es keine Trennung mehr. Und wieder stellte sich ihm die Frage des Wozu.

Plötzlich waren Jahre vergangen, man wachte auf und dachte, man habe geschlafen, traumlos.

 

Im Zug nach Greifswald, 2020. Foto: Ruth Gilberger

 
 

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