"Fixsterne" Fotografie, 2022. Theresa Herzog.

R E L A T I O N E N

am 26. Oktober 2023 | in Relationen, Wagnisse des Neuen | von | mit 0 Kommentaren

Auf zu neuen Themenfeldern! Nach den RESONANZEN, die 2020 bis 2022 „on Tour“ waren in Mönchengladbach, Greifswald und Pirmasens, startet dieses Jahr ein neues Themenfeld für die Stiftungsarbeit: RELATIONEN. Nachdem drei Jahre intensiv zu Wiederklängen und Stimmenvielfalt künstlerisch geforscht und gearbeitet wurde, soll es in den kommenden Jahren ebenfalls um multiperspektivische Wahrnehmungen und Verflechtungen gehen. Ein besonderer Fokus wird hierbei das Moment der Verbindung sein, denn immer wieder wird deutlich: Kunst in sozialen Kontexten wirkt durch und mit Beziehungen!

 

Beziehungsweisen – Verbindungen – Netzwerke

Relationen – das sind (wechselseitige) Beziehungen zwischen Lebewesen oder Dingen, die in einem besonderen Verhältnis zueinanderstehen. In der Mathematik ist der Begriff auf zwei Einheiten bezogen, die entweder in Relation miteinander stehen, was sich dann binäre Relation nennt – oder eben nicht. Bei sozialen Beziehungen verhält sich dies schon ganz anders, da handelt es sich zumeist um keine einfachen Gleichungen. Das englische „relatives“ bezeichnet die Verwandtschaftsverhältnisse, die biologisch oder rechtlich bestehen oder geschlossen werden. Die „relationship“ meint in der Regel die Liebesbeziehung. Zudem kommt es immer mehr zu Verschiebungen von konventionellen Konstruktionen, familiäre und soziale Bindungen werden immer diverser und komplexer gestaltet, erlebt und beschrieben. In dem Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“, das die Sängerin und Palliativkrankenschwester Bronnie Ware 2015 veröffentlichte, wird beschrieben, dass viele Menschen auf ihrem Sterbebett bedauern: „Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten“. Neben unseren Herkunftsfamilien und romantischen Beziehungen sehnen wir Menschen uns nach vielfältigen sozialen Bindungen. Diese können mehr privat oder beruflich sein, flüchtig oder dauerhaft, manchmal schädigend, bestenfalls bestärkend. Verbündete können wir an unerwarteten Orten treffen: in der NachbarInnenschaft, in virtuellen Welten, in politischen Kontexten, in öffentlichen Kunstprojekten?

 

 

„Fixsterne“ // Fotografie, 2022. Theresa Herzog.

 

Relationen in verschiedenen Disziplinen: Blickwinkel erweitern

Betrachtet man die Worte „relativ“ oder „Relativität“ wird schnell klar, dass nichts so richtig klar ist. Sie sprechen von Bedingtheit, Determiniertheit, Verhältnismäßigkeit, etwas bezieht sich auf etwas, etwas ist abhängig von etwas, etwas ist von einem bestimmten Standpunkt aus zutreffend. Die Relativitätstheorie nach Albert Einstein fokussiert, einfach gesagt, Positionen von BeobachterInnen, die sich relativ zueinander bewegen und die damit verbundenen Phänomene. In der Psychologie gibt es ein Konzept, das sich Alterität nennt und davon ausgeht, dass wir eine (soziale) Umgebung brauchen, ein anderes als uns selbst, um uns unseres Selbst und unserer Identität zu vergewissern. Wir reflektieren demnach unsere eigene Position immer in Relation zu anderem. Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe und andere TheoretikerInnen beschreiben eine relativ ähnliche Dynamik für die politische Sphäre und benennen diese als Agonistik: jede politische Einheit sei auf die Auseinandersetzung mit anderen Einheiten angewiesen. Es ginge nicht darum Differenzen vorschnell zu ebnen, sondern diese zuweilen auszuhalten und konstruktiv miteinander zu streiten. Dies sei kein Versagen, sondern vielmehr das signifikante Wesen der Demokratie.

Bei relativen Relationen geht es aber nicht nur um unsere Selbstwahrnehmung oder die (politischen) Systeme, in denen wir leben, sondern um philosophische Fragen und genau genommen nicht nur um ein Stück vom Kuchen, sondern um die „ganze Bäckerei“. Der Relativismus oder auch Relationismus bezeichnet eine philosophische Denkschule, die schlussendlich jegliche absoluten Wahrheiten verneint oder mindestens in Frage stellt. Nicht zuletzt bei moralischen Fragen kann dies verwirrend und problematisch werden. Und doch sollte die Infragestellung unserer Ansichten und Positionen und Privilegien immer wieder eines unserer dringlichsten Ziele sein. Das geozentrische Weltbild, der Eurozentrismus, anthropozentrische und androzentrische Sicht- und Herrschaftsweisen sind zu lange Zeit vorherrschend gewesen. Insbesondere in Zeiten, in der von einer Klimakatastrophe und nicht nur von einem Klimawandel gesprochen werden muss und massive planetare Transformationen und menschheitsbedingtes Artensterben voranschreiten, muss die sensible Beziehung der Menschen der Natur gegenüber als eine Querschnittsaufgabe für alle Gesellschaftsbereiche betrachtet und betrieben werden.

 

 

„Black Hole“ aus der Reihe „Schwarze Löcher“. Tinte und Tusche auf Papier, 2018. Ruth Gilberger.

 

Relationen, Kunst und Gesellschaft

Das Verhältnis von Kunst oder Kultur und Natur hat die Menschen seit jeher beschäftigt. Die Frage inwiefern die Künste geeignet sind um Verhältnisse generell zu untersuchen, sichtbar zu machen und zu verhandeln, ist nicht leicht zu beantworten, ebenso die Frage was denn gar ihre Aufgabe wäre. Relativ eindeutig lässt sich sagen, dass die Künste auf Verhältnisse reagieren, sich in Spannungsfeldern bewegen und diese erzeugen oder Irritationen in ihnen stiften: etwa zwischen Nähe-Distanz, analog-digital, temporär-permanent, privat-öffentlich, individuell-kollektiv, Utopie-Dystopie – die Liste lässt sich fortsetzen.

Auch die Beziehung von Kunst zu sozialen Kontexten, Gemeinschaft und Gesellschaft hat eine lange Geschichte und rückt mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen immer wieder neu in den Fokus: viele Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts zelebrieren die Kunst als sozialen Prozess und verwischen die Verhältnisse von KünstlerInnen und RezipientInnen. Ansätze der Soziokultur und Community Art fordern mehr Gerechtigkeit und die Teilhabe gesellschaftlicher Gruppen, die von vielfältigen Formen der Diskriminierung betroffen sind und die Schutzräume, sowie Sichtbarkeit gleichermaßen in und durch künstlerische Kontexte erfahren und erfahrbar machen. Auch Joseph Beuys und sein erweiterter Kunstbegriff in der Sozialen Plastik scheinen an Aktualität nichts einzubüßen und feiern Jubiläen. Der Kunstkritiker und Kurator Nicolas Bourriaud beschrieb in seiner Essaysammlung „L’Ésthetique Relationelle“ (1998) die von ihm begründete Relationale Ästhetik als eine Kunstform, die zwischenmenschliche gesellige Momente und Experimente schafft und als quasi objektlose Kunst den partizipativen Prozess in den Blick nimmt. Und auch hoch aktuell beschäftigen sich die großen Biennalen und zeitgenössischen Kunstausstellungen mit Fragen eines neuen „Wir“ in Form von kollektiven und kollaborativen künstlerischen Ansätzen.

Wie begegnet man der Gefahr des „Alles ist relativ“-Breis bei all den brennenden gesellschaftlichen Fragen, die moralisch und politisch einerseits Stellungnahme erfordern und bewahrt zugleich die Empathie für die Position und differenten Blickwinkel anderer? Die berühmte Arbeit „Plötzlich diese Übersicht“ des Künstlerduos Fischli und Weiss von 1981, bestehend aus einer Serie hunderter ungebrannter kleiner Tonobjekte, betitelt auf humorvolle und philosophische Art Alltägliches und Historisches und zeigt wie absurd und relativ Klassifikationen und beispielsweise Gegensatzpaare sein können. So werden etwa unter dem Titel „klein + groß“ eine Maus und ein Elefant dargestellt – die aber aus Ton geformt dieselbe Größe haben.

Wir werden in unseren Projekten in den nächsten Jahren verschiedenen Beziehungen und Verhältnissen nachgehen: z B. in unserem Praxis-Mentoring ÜBENÜBENÜBEN³ die Wechselwirkung von Mentee-MentorIn (als Lernende-Lehrende), in unseren Praxisprojekten die Relationen und (Un-) Verhältnismäßigkeiten vor Ort untersuchen und in unserem digitalen Resonanzspeicher die Idee eines Analog-Digitalwandlers versuchen umzusetzen, um auch die unsichtbaren Beziehungsgeflechte sichtbar zu machen.

Es bleibt auf jeden Fall spannend und alle sind herzlich eingeladen, Beziehungen zu gestalten und gestaltend Beziehungen zu verändern!

 

 

„Firmament, oder: Rhytm“ Tusche auf Papier, 2023. Theresa Herzog.

 

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