Anne-Katrin und Gerhard erinnern sich an das Summercamp 2015 der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft. Ausgangspunkt des Camps bildete folgendes Konzept:
„Das Summercamp ist ein experimentelles und bewusst offen gehaltenes temporäres Format für Austausch und Ideen zwischen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren im Feld von Kunst und Gesellschaft. Das Summercamp wurde gemeinsam von der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft und der Professur für Kunstdidaktik der Universität Duisburg-Essen durchgeführt. Als Veranstaltungsformat nimmt das Summercamp seine ursprüngliche Bedeutung beim Wort: Auf dem Stiftungscampus der Montag Stiftungen in Bonn wird auf einer Freifläche ein Zeltlager für ein Wochenende aufgeschlagen, um draußen gemeinsam handelnd Denk- und Konzeptionsprozesse zu entwickeln. Dabei bezieht sich die Idee des Camps auch auf freiheitliche, romantische und gesellschaftliche (Vor)bilder des Campierens. Ziel des Camps ist es, die Wirkung von Kunstprojekten in gesellschaftlichen Feldern besser zu verstehen und zu verankern.“
Anne-Katrin:
Es ist Samstagmorgen. Ich komme voller Erwartung angesichts eines noch gänzlich offen gelassenen Programms bei der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft mit meinem zeltbestückten Rollkoffer an. Die Luft ist deshalb und aufgrund der Orkanwarnung etwas unberechenbar. Trotzdem sich bereits einige Zeltbauten auf der Wiese des Stiftungscampus befinden, wird mir von meinen neuen Kolleginnen und Kollegen empfohlen, das Zelt aufgrund der Wetterwarnung auch erst einmal verpackt zu lassen. Das hört sich stimmig an und ich verschiebe zumindest dieses Experiment auf später.
Gerhard:
Zu diesem Zeitpunkt bin ich natürlich bereits vor Ort. Leider ohne Zelt, da ich erst am Vortag gemerkt habe, dass es mir im Keller verschimmelt ist. Aber einen Platz zum Schlafen werde ich schon irgendwo finden. Immer mehr bekannte und unbekannte Menschen trudeln ein und dann geht es los. Zur gemeinsamen Vorstellungsrunde bekommen wir alle eine weiße Schürze, die wir mit Namen und drei Hashtags beschriften. Diese drei Schlagwörter können alles sein: Erwartungen an das Camp, eine Selbstbeschreibung oder ein Angebot an mit Mitcampenden.
Meine Hashtags:
#Frager
#meinSenf
#Kunst?
Viele andere waren aber noch viel kreativer mit ihren Schürzen. Immerhin wird meine zum Schluss des Camps zu den dreckigsten gehören.
Anne-Katrin:
Beschürzt mit den Hashtags
#Migration
#Kunst
#Geschichte
stelle auch ich mich der Runde vor. Nachdem wir alle zumindest einmal den Namen des/der anderen gehört haben, geben uns Christine Heil und Ruth Gilberger dann doch einen Ausblick auf die Teile des Programms, die bereits vorbereitet waren. So ganz ohne Struktur geht es also doch nicht, denke ich mir. Statt über die übliche Flipcharts zieht sich der Zeitstrahl des Summercamps jedoch über den großen Müllcontainer, der im Hof steht. Das sieht besser aus als es sich anhört und macht Lust auf das vielseitige Programm des ersten Tages, das da lautet:
Tag 1:
Fred/Spiel des guten Lebens/Hausbau/Dusche (vormittags)
Schattenspiel/Kolumbien/Essen/Feuerrunde (nachmittags/abends)
Gerhard:
Zur ersten Workshoprunde gehe ich zu der Künstlerin Susanne Bosch, die das „Spiel des guten Lebens anbietet“. Die Regeln sind schnell erklärt. In die Mitte des Tisches kleben wir ein Post-it „gutes Leben“. Dann fangen wir der Reihe nach an, weitere Post-its mit Dingen zu beschriften, die wir uns für ein gutes Leben wünschen und kleben sie – je nach Wichtigkeit und Priorität – in entsprechender Entfernung um das „gute Leben“ herum. Schnell bilden sich Themen-Cluster und wir sehen, dass es Bereiche gibt, in denen wir uns alle einig sin: Freiheit ist seeeeehr wichtig. An anderen Stellen zeigen sich aber auch Unterschiede: Gutes Essen weiß eben nicht jeder zu würdigen. Dann wird es aber spannend. Nach der ersten Runde ändern wir das zentrale Post-it. Nicht das gute Leben steht mehr im Mittelpunkt unserer Diskussion, sondern die „Kriterien für gelingende Teilhabe in der Kunst“.
Anne-Katrin:
Ich entscheide mich für „Fred“. Unter diesem Titel findet sich eine Diskussionsrunde über die Rolle partizipativer Kunstprojekte in der Gesellschaft zusammen. Angestoßen wird das Gespräch durch das Vorlesen eines Protokolls, das einen Chat zwischen Fred und Alex dokumentiert. Der Chat war real, die Namen sind frei erfunden. Freds Haltung zu partizipativen Kunstprojekten in prekären Kontexten erweist sich als eine kritische, offen schonungslose bis stellenweise fatalistische… dagegen Alex, die Idealistin, die nichts schönfärbt, doch vom Potenzial der Kunst überzeugt ist. Fred wehrt sich gegen Stigmatisierung, etwa durch gut gemeinte Migrantenlabels. Er ist sich sicher, Bildung hilft, Graffiti nicht. Es rüttle nicht am System. Wir reiben uns an Fred und Alexs Schlagabtausch und es entwickelt sich eine kontroverse Debatte über die Isolation der Kunst, Partizipation und Prekariat, Wertedebatten im Bildungssystem u.v.m.
Gerhard:
Zum zweiten Workshop setzen wir uns vor den Beamer. Carolina, Master-Studierende des Studiengangs Kunst im Kontext der UDK Berlin, berichtet von dem partizipativen Kunstprojekt, das sie für ihre Masterarbeit in Kolumbien durchgeführt hat. Spannend, wie unterschiedlich die Rahmenbedingungen verglichen mit Deutschland dort sind. Carolina erzählt viele Anekdoten und beantwortet all unsere Fragen zu Projekt. Wie habt ihr es auf die Beine gestellt? Wie war die Laufzeit? Plant ihr eine Fortsetzung?
Anne-Katrin:
Pappen, Cutter, Wattestäbchen sind einige der Arbeitsmaterialien, die ein gutes Schattentheater braucht, erfahre ich am Nachmittag. Künstler Herlambang Bayu Aji ebenfalls Studierender des Master-Studiengangs in Berlin, zeigt uns kurz sein Werkzeug und lässt uns dann selber machen. Unterm vorausschauend vorbestellten Partyzelt entwickelt sich trotz Regen und Sturm eine konzentrierte und gut gelaunte Arbeitsatmosphäre. U.a. entstehen Drachen, Bonzen, Feuertänzer wie ein alter Esel und werden in der Nacht zum Leben erweckt. Dabei erfahren wir ganz nebenbei von Bayus Theaterprojekten in Berlin, zivilgesellschaftlicher Kritik an Indonesiens diplomatischer Vertretung in Deutschland und wie man aus Wattestäbchen Scharniere kokelt. Bayus künstlerischer Ansatz, mit dem Handwerk und der Ästhetik des traditionellen Schattentheaters, neue Perspektiven auf das Hier und Jetzt zu entwickeln, erscheint im Laufe des Nachmittages immer überzeugender.
Gerhard:
Dann machte der ewige Regen eine Pause und bevor es dunkel wurde, sollten wir noch einmal kurz die Sonne über dem Campus scheinen sehen. Nach all den Diskussionen und künstlerischen Aktivitäten des Tages hatten wir uns alle eine Stärkung verdient! Also wurde der Grill angeschmissen und wir durften das leckere Essen probieren, dass die Workshoprunde „Essen“ bei ihren Diskussionen vorbereitet hatte. Jetzt konnten wir uns ganz frei mischen, und auch mit denjenigen unterhalten, die wir zuvor in den Workshops noch nicht besser kennengelernt hatten. Bis in die Nacht standen und saßen wir bei Fackeln und Lagerfeuer zusammen, bevor sich eine/r nach dem anderen in die Zelteund in die spontan zu Schlafsälen umfunktionierten Seminarräume zurückzieht.
Anne-Katrin:
Am nächsten Morgen wache ich neben der Isomatte auf. Der Rücken drückt ein bisschen. Dafür verspricht ein Blick in den Himmel ein trockenes Frühstück. Ich bin gestärkt für ein weiteres Diskursformat. Nach dem Frühsport mit Tanz und Sensorik-Übungen führen wir heute die Debatte zu partizipativen Strategien in der Kunst weiter, lassen uns auf Martin Gehris Lagerfeuergespräche ein oder bearbeiten das Mauerbild im Innenhof des Stiftungscampus weiter.
Gerhard:
Ein Gedanke treibt mich zu Beginn des zweiten Tages um: Duschen oder nicht Duschen? Das ist hier die Frage. Im Workshop des Vortages wurde eine Freiluftdusche gebaut. Der Künstler der improvisierten Architektur: Eberhard Weible. Dort, wo sonst die Fahrräder der Stiftungsmitarbeiter parken, sind Planen gespannt. Die Hartgesottenen können sich hier jetzt mit kaltem Wassernebel besprühen oder per Handbetrieb über einen Riemen die Kaffeebecher-Schaufelräder in einen Wassereimer eintauchen lassen, um sich dann unter das sich ergießende Wasser zu stellen.
Ich passe. In meinem letzten Workshop – ungeduscht, aber mit frischem Geist – wurde wieder diskutiert. In Kleingruppen setzen wir uns zusammen und überlegten, welche die wichtigsten Bedingungen dafür sind, partizipativ zu arbeiten. Wir haben uns alle dafür einfach mal viel mehr Zeit genommen, als vorgesehen, bevor sich die Kleingruppen wieder zusammengesetzt haben, um ihre Fazits zu teilen und in großer Runde weiter zu diskutieren. Man merkte, dass das Thema passte und wir hätten alle sicherlich noch bis in den Abend weiterreden können – wären wir dann doch nicht alle recht erschöpft gewesen. Außerdem mussten manche ihren Zug erreichen und man soll ja auch immer aufhören, wenn’s am schönsten ist.
Anne-Katrin:
Sichtbar bleibt nach den vielen Bekanntschaften, Gesprächen und neuen Ideen das Haus aus Pappmodulen, das Frank Bölter mit seinem Workshop-Team am Samstag gebaut hat. Braun und groß steht es da. Wie das gemeinsame Wandbild, das sich inzwischen über die Campusmauer zieht, ist es Wind und Wetter ausgesetzt. Noch Wochen nach dem Camp geben Hausskulptur und Wandbild den Anlass für viele weitere Gespräche, dieses Mal unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller Montag Stiftungen. Ein neuer Diskurs entwickelt sich und ich erinnere mich an eine Frage, die eine der Teilnehmerin zum Schluss des Camps gestellt hat: Ist das Summercamp ein Anfang?
Foto oben: Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft