Foto: Susanne Bosch

Lernen im Zukunftsvakuum

am 20. April 2020 | in Allgemein, Resonanzen, Wagnisse des Neuen | von | mit 0 Kommentaren

Berlin 04.04.2020: Gibt es eine Möglichkeit, Zusammenhalt zu erleben, ohne in einem Raum zu sein? Können Menschen sich online überhaupt begegnen? Und welche Rolle spielt da die Kunst, vor allem die Kunst, die sich ins Soziale und aktiv gestaltend einmischt?

Nun ist es überall zu hören: Der Mensch ist ein soziales Wesen, strebt nach Verbundenheit und Freiheit gleichzeitig und ist in seinem besten Potential, verbunden mit anderen und frei zur gleichen Zeit. So die letzten Tage im Radio, als es um die Frage ging, was diese räumliche Distanzierung mit uns eigentlich macht und warum es uns so schwerfällt, auf diese gemeinsamen Räume zu verzichten und zuhause zu bleiben. Wir erleben im Moment eine Situation, in der systemische Qualitäten auf einfachste Art für alle erlebbar werden: “Wir sind viele. Wir sind eins.“ und „Dein Verhalten verändert das System. Dein achtsames Verhalten ist notwendig, um einen Zusammenbruch des Systems zu vermeiden.“[1] Angela Merkel sagte es in ihrer Ansprache am 18. März in etwas anderen Worten: „Das wirksamste Mittel gegen das Virus sind wir selbst. So wie unterschiedlos alle betroffen sein können, muss jede und jeder helfen. Nicht einen Moment denken, auf ihn oder sie komme es doch nicht wirklich an. Niemand ist verzichtbar. Alle zählen. Es braucht unser aller Anstrengung. Wie verwundbar wir alle sind und wie abhängig von dem rücksichtsvollen Verhalten anderer. Aber auch, wie wir uns durch gemeinsames Verhalten uns schützen und gegenseitig stärken können. Es kommt auf jeden an. Wir sind nicht verdammt, die Ausbreitung des Virus passiv hinzunehmen. Wir haben ein Mittel dagegen.“ [2]

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Verbundenheit bedeutet, gleichzeitig ganz bei sich und ganz beim anderen zu sein. Es ist ein Paradoxon an sich, das wir als Menschen aber vermögen zu tun. Da wir im Moment gemeinschaftlich etwas erleben, ist der Drang nach Austausch mit anderen enorm. Auch das Finden von Lösungen aus dieser Situation, in der wir „derzeit gewissermaßen in der Gegenwart gefangen sind und nicht wissen, wie es weitergeht,“[3] ist ein kollektive, sogar global-kollektive Aufgabe.

Aus den Versuchen online, sich auszutauschen, erwachsen Erfahrungen und wir lernen enorm schnell. Mit Lernen meine ich hier im Sinne von Gerald Hüther nicht nur Wissen, sondern den ganzen Prozess von Erkenntnis, Begreifen zum Verstehen.[4] Letztendlich geht es darum, jetzt und für diese neue unbekannte Zukunft etwas zu lernen, zügig – „no rush, no pause“ – und kollektiv, denn es dämmert uns langsam, dass dies eine von vielen kommenden globalen Ereignissen sein könnte. Allein der Klimawandel wird mit ebenfalls für uns bisher unfassbaren und unvorstellbaren kollektiven Ereignissen belegt, die zum Teil irreversibel sein könnten. Wir haben alles an der Hand, um als Menschheit mit dieser Komplexität so umzugehen, dass es ein globales, friedliches, Miteinanderleben aller ist. Die „Fridays for Future“ Bewegung, d.h. ein Teil der Generation 10+, macht uns seit ca. einem Jahr dringend darauf aufmerksam. Was habe ich also in Woche 2 dank Corona lernen dürfen über den Online Sozialraum, einem Ort, an dem sich nun immens viele Menschen begegnen, die sonst in einem physischen Raum miteinander wären?

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1. Der Körper ist anwesend, der Körper ist „zoomed out“

Wir können uns selbst über ein virtuelles Medium als Menschen fühlen? Es ist möglich einen WIR Raum zu erzeugen, der eine Atmosphäre erhält, also so gestaltet ist, dass Mensch ankommen kann, mit Körper, Seele und Geist? Körperliches Ankommen in einem virtuellen Raum? Ja, das ist möglich. Es wird zusammen getagt, meditiert, Sport gemacht, gesungen, gefeiert, Musik gehört, an interaktiven Workshops teilgenommen, gemalt, gelernt, geprobt, gecoacht, therapiert… Will man wirklich miteinander in einen Austausch, wo mehr als reine Information ausgetauscht wird, also Bekanntes downgeloaded wird, dann muss der Körper in die Präsenz integriert werden. Es ist eine Aufgabe der Moderation dieser Veranstaltungen, diesen Aspekt nicht als gegeben zu nehmen, sondern aktiv mit einzubeziehen. Wir besitzen die Fähigkeit, gleichzeitig zu mentaler Aktivität unseren Körper, auch den Raum, in dem wir sitzen, als soziales Werkzeug zu aktivieren und zu integrieren. Wir tun es eigentlich dauernd, aber mit weniger Aufmerksamkeit, als wir es jetzt tun, wo uns eine Ebene der Begegnung entzogen wurde. Partizipatorische Kunst operiert immer mit einer verkörperten Präsenz der Anwesenden, Künstler und Künstlerinnen wie Teilnehmende. Sie operiert auch damit, diese Begegnungsräume ästhetisch so zu gestalten, dass sie der Intention entsprechend wirken. Was solche Kunstprojekte tun, ist ein Einander hören zu gestalten, dass einen neuen Blick auf die Dinge zulässt. Genau das gilt es in den virtuellen Raum zu übersetzen durch bewusste Setzungen von Zeit, Ton, Länge, vorbereitende Ankündigungen, Anzahl der Teilnehmenden, Einladungen zu Interaktion und Beherrschung der technischen Möglichkeiten der Internetprogramme. In der Welt des Coachings, auch einem Mensch-zu-Mensch Berufsfeld, laufen im Moment viele Peer-to-Peer Trainings zur zügigen Aneignung dieser Fähigkeiten.

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2. Hören ist das neue Aufmerksamkeitsorgan

Mehr als Sehen scheint im Moment ein Organ gefragt, das Hör Organ. Hören ist das neue Aufmerksamkeitsorgan. Wir hören gerne die Anderen in ihrer Abwesenheit, wir hören die Umgebung neu. Ich behaupte, wir hören genauer hin, da wir die Resonanz der anderen in diesem gemeinsamen Gegenwartserlebnis suchen. Wir befinden uns in einem Wartezustand, der erstmal ohne eine bestimmte Qualität belegt ist, vielmehr von uns mit Qualitäten belegt wird. Wir haben also die innere Wahl, wie wir zu dem Erlebten stehen. Unsere Haltung zählt und ist aber in diesem Moment nicht festgeschrieben. Viele erleben eine kontinuierliche Pendelbewegung zwischen Angst und Offenheit, Stress und Entspannung.

Hinhören kann mit verschiedenen Schwerpunkten ausgeführt werden. Da wir uns alle in dem einen Erlebnisraum befinden, gibt es keine passive Zuhörendenschaft, alle sind aktiv in das Weltgeschehen involviert. „Ich höre das, was ich bereits weiß“, ist eine Form, sich zu bewegen, gefolgt von faktischem, d.h. ich kann faktisch unterscheiden sowie empathischem Zuhören, d.h. ich spüre das Erleben des Gegenübers. Will ich wirklich etwas Neues erfahren, neue Räume aller Art erschließen, bedarf es einem schöpferischen Zuhören, einem Hinhören, was in die Sache selbst liegen könnte. Letzte Tage hörte ich jemanden über das „Wahr-nehmen“ und das „Wahr-teilen“ sprechen. Da Faktisches und typisches Downloaden von Bekannten gerade so wenig greift aus Mangel an Erfahrung, sind wir empfänglicher für das empathische und schöpferische Zuhören. Es wird viel über Gefühle gesprochen, auch in absolut professionellen Kontexten und er werden absolut neue Gedanken und Ideen geäußert und probiert.

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3. Aufmerksamkeit als neue Superpower/Superkraft

Wie genau soll das nun gehen, dieses schöpferische Zuhören und das auch noch online?

Otto Scharmer, Wirtschaftswissenschaftler am MIT Boston, stellte die Frage, ob die neue „Superpower oder Superkraft“ vielleicht weder eine geo-politische noch eine diktatorische oder ökonomische sei, sondern die Aufmerksamkeit an und für sich[5]. Wenn Un- oder Nicht-Aufmerksamkeit als eine Form von Gewalt gelesen werden können, die durch das nicht Hinschauen oder Hinhören globale Katastrophen auslöst, dann ist die Fähigkeit zu einem Höchstmaß aufmerksam zu sein, eine, die neue Ebenen von schnellem dezentralen Agieren und Reagieren sowie Kreativität hervorbringt. Der Parameter ist hier, ins Kollektive zu horchen, in das Boot, in dem wir alle zusammensitzen. Ich schieße diesen Ball zurück in das Feld der Kunst: Wir sind professionell trainiert darin, Dingen bis in die Tiefe Aufmerksamkeit zu schenken.

 

 

 

 

[1]https://medium.com/@sascha.g.berger/acht-aktuelle-lektionen-von-otto-scharmer-vom-coronavirus-zur-klimaaktion-6588e131a519

[2] Dr. Angela Merkel mit einer Rede an die Nation 13.3.20, https://www.youtube.com/watch?v=DrFB1LtbNPE

[3] Gerald Hüther Vortrag St.Gallen „Es geht um unsere Würde“, Vortrag St. Gallen, 2018, https://www.youtube.com/watch?v=kAneXsi-EdQ

[4]     Global Social Witnessing Conference, https://www.youtube.com/channel/UChpq6lkK91ewTRmEiE90Q8w, https://www.youtube.com/watch?v=aJQe9ClEzmU

[5] Global Social Witnessing Conference, https://www.youtube.com/channel/UChpq6lkK91ewTRmEiE90Q8w, https://www.youtube.com/watch?v=aJQe9ClEzmU

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