Die Künstlerin Deborah Jeromin erzählt: Von fehlenden, wiederkehrenden und neu verknüpften Kontakten. Und vom Künstlerinnen-Dasein in Zeiten von Corona. Von ihrem ersten künstlerischen Workshop mit Katrina Blach nach 1 ½ Jahren pandemischer Zwangspause. Von Kino auf einem Schiffssegel. Von ihrer Zeit in Greifswald.
Zurückgezogener sind die Menschen nach anderthalb Jahren Pandemie geworden. So auch ich. Der Gedanke, tagelang auf einer Wiese frei ansprechbar zu sein setzt bei mir nicht nur Freude frei. In unserem Workshop „Knotakte“, den ich mit Katrina Blach durchgeführt habe, ging es um Kontakte und Verbindungen. In dem dreitägigen Workshop rissen wir Bettlaken in Streifen, färbten sie ein und verknoteten sie letztendlich zu einem großen Netz. Unsere Fragestellungen bezogen sich auf die sozialen Zusammenhänge vor Ort und die Veränderungen durch die Pandemie: Was ist noch über nach 1 ½ Jahren Social Distance? Was ist das Netz, das uns trägt? Welche Kontakte können neu geknüpft werden? Gibt es überhaupt ein Auffangnetz, um nicht zu tief zu fallen?
Viele haben diese Fragen in der letzten Zeit sehr beschäftigt. Nicht zuletzt ist die Auseinandersetzung mit Einsamkeit zentral geworden. Wie können Hemmschwellen, in Kontakt zu treten, überwunden werden? Für mich hatte die Pandemie bezüglich meiner Kunst eine klare Antwort: Ohne Gesellschaft, ohne Bewegung, keine Kunst von mir.
Ich schöpfe nicht aus mir heraus. Ich schöpfe aus Verbindungen. Die Zusammenhänge sind das, was neu verknüpft die Perspektive ändert. Das Verorten in einem Komplex als Ausgangspunkt, das Folgen der Fäden als Bewegung, den Zugang zu schaffen über Zusammentreffen – all das sind Arbeitsweisen, die in letzter Zeit auf die Probe gestellt wurden. Die Bewegungslosigkeit, die aus dem ersten Lockdown entstanden ist, war erdrückend und es gab das Jahr über nur einen Gedanken als Ausweg: Es muss bald aufhören, dieses Abgeschnitten-Sein.
Ich habe 2020 (m)eine sechsjährige Recherche über die Geschichte der Seidenraupenzucht für Fallschirme und die Erinnerungen von Zeitzeuginnen an die deutsche Besatzung von Kreta und ihre damaligen Handarbeitsprozesse veröffentlicht. Sie ist in einen künstlerischen Dokumentarfilm und ein Buch eingeflossen. Manchmal frage ich mich, ob das wirklich passiert ist. Mir war nie so klar, wie wichtig Feedback ist, wie viel es bedeutet, mit Menschen zusammen in einem Kinosaal zu sitzen, in die Gesichter von Zuhörerer*innen zu blicken. Ein essentieller Teil meiner Arbeit, seine Rezeption, ist somit bisher ziemlich an mir vorbeigegangen. Oder sie hat gar nicht stattgefunden. Kann auch sein.
Im grauen Mai versuche ich beispielsweise verzweifelt, während einer Künstlerinnenresidenz auf dem Land mit brüchiger Internetverbindung an einem virtuellen Treffen aller Filmemacher*innen der Kurzfilmtage Oberhausen teilzunehmen. Ich kann meinen Portrait-Kreis auf einer Oberfläche bewegen und, wenn die Verbindung es für kurze Zeit zulässt, sogar hören, was die anderen Gesichterkreise reden. Manchmal werden die Kreise zu kleinen Kreis-Videos. Sitzen die da zusammen? Wow, so cool wäre ich auch gerne. Vielleicht kennen sie sich schon? Locker small talking ist angesagt. Was soll ich sagen?
Nachdem ich den richtigen Browser installiert habe und das Internet geht, verschwinden die ersten schon wieder von der Bildfläche. Das Treffen ist vorbei.
Es ist ganz still, nur manchmal schreien die Möwen durch Wind und Regen. Sie haben ihr Nest auf dem Dach meines Schlafzimmers gebaut. Im Juli werden sie sehr aggressiv. Sie drohen einander und eine Möwe macht stundenlang Geräusche wie eine knarzende Tür. Ansonsten ist es sehr ruhig. Als der Ausstellungsraum im Erdgeschoss wieder geöffnet ist, bleiben die Ausstellungen fast unbesucht. Alle laufen Eis-schleckend am Haus vorbei Richtung Strand. Ergebnis meiner einsamen Residenz in Norddeutschland an der Ostsee ist ein ungebrochenes Vertrauen in die Fäden: Zählen auf die textilen Zusammenhänge und ihre Spuren durch die Geschichte und die Leben von Menschen. Im materiellen wie abstrakten Sinn.
Katrina hat mir vor längerer Zeit sehr geholfen bei der Entwicklung eines Workshops zum Aufrippeln und zum gemeinsamen Stricken. Auch sie hat mir vermittelt, in die textilen Prinzipien vertrauen zu können. Sie eignen sich sehr gut, um das unmittelbare Verständnis von Zusammenhängen hervorzurufen. Während des Workshops auf der Kemnitzer Wende in Greifswald steht ein Kind neben mir am gemeinsam geknüpften Netz und sagt: „Ich bin verbunden mit tausend Leuten, ich bin im Internet.“ Wie war das nochmal? Über sieben Ecken kennt man die ganze Welt? Auch noch nach Corona?
Unsere Zeit in Greifswald fängt mit einem Kennenlernen der Mitarbeiter*innen der Stiftung an. Ist es besonders schön, weil so ein Zusammensitzen so selten geworden ist? Es ist schön. Ich freue mich Greifswald kennenzulernen.
Die Kemnitzer Wende, auf die wir am Montagmorgen aus dem vierten Stock schauen, ist unübersichtlicher als gedacht – gar nicht so schlecht, nicht in einem Panoptikum zu arbeiten. Ich bin gespannt, wie die Menschen in der Umgebung uns und das Angebot aufnehmen werden. Gleich am Anfang des Workshops bin ich positiv überrascht – wir werden hier wohlwollend aufgenommen! Die Menschen, die vorbeilaufen, lächeln und nehmen dankend Programmhefte entgegen. Die Berührungsängste halten sich in Grenzen. Besonders die Präsenz der evangelischen Gemeinde auf der Wiese ist ein Türöffner. Eine Besucherin aus der Gemeinde erzählt später beim gemeinsamen Knoten, dass Corona sie zu einem positiven Turn gebracht und sie ihr Leben grundlegend geändert habe.
Don’t go back to normal. Sie wirkt befreit und froh. Für mich war ein positives Ergebnis aus der Zeit, mir über meine engen Freund*innenschaften gewahr zu werden. Zu sehen, wieviel eigentlich da ist. Zu verstehen, dass ich in meine Kontakte vertrauen kann. Wir versuchen den komplizierten Vierecks-Knoten nochmal.
Der Besuch einer dritten Schulklasse bringt unseren Workshop auf eine andere Ebene. Die Lehrerin hat sehr gute Vorarbeit geleistet und die Schüler*innen kennen schon das Wortspiel im Titel „Knotakte“. Unsere Schritte so ganz konkret zu benennen und am Netz Kontakte von mir zu Katrina zu einer ihrer Freundinnen usw. zu erklären, hilft mir, unser Konzept ganz bewusst zu machen. Auch wenn ich in diesem Text die textilen Worte ein wenig zu sehr bemühe…, das Benennen der Verbindungen hat etwas mit Achtsamkeit und Wertschätzung zu tun. Es fängt damit an, sich selbst wahrzunehmen. Das Reißen der Stoffe, der erste Arbeitsschritt im Workshop, ist genussvoll und setzt den Körper mit dem Textil ins Verhältnis. Der Moment etwas zu zerstören, das Geräusch, das Gefühl für Länge, Dicke, Beschaffenheit… Es ist so unmittelbar und begeistert so, dass jedes Kind ganz schnell lernt, wie das Gewebe funktioniert und wo der Stoff aufhört. Ich mag es immer sehr gerne, wenn Katrina dann nüchtern sagt: „Zuhause bitte nicht nachmachen.“
Am Ende des ersten Workshop-Tages sagt ein sehr aktiver Teilnehmer, dass er jetzt verstehe, was es mit der Kunst im Projekt auf sich habe. Es gehe darum, die Sachen mal von einer anderen Seite zu sehen. Innerlich platze ich fast vor Freude, gefasst lächelnd sage ich, dass das genau das ist, was wir gerne erreichen möchten. Unser erster Tag: Erfolgreich durchgeführt. Check.
Wie schnell sich Routinen einstellen… Der Aufbau am zweiten Tag fühlt sich so an, als wären wir schon seit Wochen hier. Kurz nach 14:00 Uhr tauchen auch schon wieder bekannte Gesichter auf – einige Workshop-Teilnehmerinnen von gestern. Pauline widmet sich heute ganz dem Färben mit Kurkuma. Die leuchtenden, gelben Stränge, die sie mit zwei, drei Jugendlichen auswringt, werden von uns auf die dafür gespannten Leinen gehängt. Wenn sie aus dem Topf kommen, sind sie ein richtiger Fadensalat und wir müssen sie entwirren. Beim Trocknen verlieren die Stränge innerhalb von Minuten ihre Leuchtkraft – ein Prozess, der den Blick schärft und den Färbevorgang beleuchtet. Das angefangene Netz hängt nun sehr präsent mitten auf der Kemnitzer Wende. Ein Kind hat es gleich als Volley-Ball-Netz in Beschlag genommen. Die Teilnehmerinnen, die senfgelbe T-Shirts tragen, haben alles richtig gemacht. Sie stehen vor dem Netz und lassen sich fotografieren.
Sinnvoll wäre sicherlich gewesen, das Netz dreidimensionaler zu machen. Katrina und ich haben uns überlegt, dass es eine gewisse Einheitlichkeit braucht, um es optisch ansprechend zu halten. Bis zum Ende des Workshops bleibt das für mich eine offene Frage: Lassen sich die Kontakte, als Knotakte, denn überhaupt in diesem Netz abbilden? Das Netz steht jedoch ohne Frage für unseren dreitägigen Prozess. Es ist Resultat und Beweggrund.
Am Abend fahren wir direkt zur Museumswerft, um dort für das Segel-Kino aufzubauen. Der Abend ist mild und die Werft ist idyllisch. Bei totaler Flaute kann das „Leinwand“-Segel hochgezogen werden. Als ich in der Stadt vor der Vorführung etwas zu Essen hole, höre ich Leute über das Screening reden. Diese Stadt ist ja ohnehin schon sehr sympathisch, aber sich so willkommen zu fühlen, ist dann wirklich überzeugend.
In der Werft wird derweil ein Ansturm erwartet, weil an diesem Abend in Greifswald sonst nichts los ist. Die Hälfte der Sitze bleibt zwar letztendlich leer, aber dafür sind die anwesenden Zuschauer*innen interessiert und im Gespräch nach dem Film sehr engagiert.
Für mich ist es das erste Screening mit anschließendem Gespräch, seit mein Film vor fast einem Jahr herausgekommen ist. Ich genieße es, die individuellen Perspektiven auf den Komplex zu hören. Ein Biologe erklärt mir beispielsweise seine Sicht auf die Darstellung der Seidenraupenzucht. Eine Andere bringt mich auf ein Buch über Tiere im Nationalsozialismus. Eine besondere Freude ist es, mir meine Begeisterung für das Thema teilen zu können und meine Arbeit dort zu sehen, wo sie gewollt ist bzw. auf Interesse stößt. Das habe ich mir gewünscht und es ist ungemein befriedigend zu sehen, dass der Film bewegt. Ich bin sehr dankbar für die Organisation des Screenings und allen, die mitgeholfen haben und sich Zeit genommen haben. In einer Stadt, wie Greifswald, merkt man mehr dass viele Errungenschaften und Organisierungen auf die Initiative von Einzelnen oder Wenigen zurückgehen. Ich schätze das hohe Level an Eigeninitiative in Städten dieser Größe. Außerdem sind die Kontakte oft persönlicher.
Davon profitieren wir auch in unserem Workshop, an dessen Ende ein riesiges gelbes Netz entstanden ist, das sich durchlässig und fest, verknotet und grobmaschig, stark und verbindend in seine Umgebung einpasst und durch das der Wind wirbelt.