Ein Gespräch zwischen Ruth Gilberger und Nico Baumgarten im Zug von Duisburg nicht nach Hamburg, sondern Berlin
RG: Lieber Nico, als Fotograf und Fotobuchgestalter durfte ich dich über unser mobiles Ausstellungsprojekt „Welt im Umbruch“ erstmals in Rostock kennenlernen und freue mich, dass es hierüber die unterschiedlichsten Verbindungen zu geben scheint, über die ich jetzt während unsere Fahrt nach Berlin, deinem aktuellen Heimatort, aus aktuellem Anlass sprechen möchte: Welche Parallelen siehst du zwischen Perspektive Umbruch, dem Thema der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft, ihrem aktuellen Fotobuchprojekt „Welt im Umbruch“ und dem Titel der Triennale der Photographie Hamburg „Breaking Point“, in der du einen Ausstellungsteil kuratierst?
NB: Umbruch und „breaking Point“ haben natürlich insofern etwas miteinander zu tun, als „Bruchstelle“ genau den „Umbruchspunkt“ beschreibt, an dem alles anders ist, als es vorher war. Umbruch als komplexes Phänomen hingegen ist gekennzeichnet von dem „noch“ vorhandenem Alten und dem schon vorhandenen Neuen bzw. dem Kampf dazwischen. Ich habe mir eher emotional die Frage gestellt, was für mich ein Umbruchspunkt ist: Das kann ein Ereignis sein, dass sowohl von außen wie auch aus einem selbst generiert werden kann, das ganz plötzlich erfolgen oder einen langen Vorlauf haben kann. Nichts ist mehr wie es war – insofern ist auch der Umbruchspunkt ein „Aufbruchspunkt“, und das drückte sich für mich sehr schön in dem Untertitel „Searching for a change“ aus, weil hier auch Anklänge an Utopien und Visionen enthalten sind.
RG: Für unser Projekt hast du als Fotograf Fotobuch-Workshops geleitet in Rostock und Duisburg für Laien. Jetzt bist du von dem Festivalleiter Krzysztof Candrowicz eingeladen, einen Teil des Festivals unter dem Begriff „Home“ zu kuratieren. Wie kam es dazu?
NB: Wohnen, Zuhausesein ist für mich eine wichtige Frage, sowohl persönlich wie gesellschaftlich: Persönlich habe ich mich für die kollektive Wohnform des „Wagenplatzes“ entschieden und dort ein Baumhaus konzipiert. Und auch in meinen Buchprojekten und Fotoarbeiten habe ich mich mit den gesellschaftlichen Perspektiven auf Wohnformen und Zuhausesein auseinandergesetzt.
Ich versuche hier, der für mich neuen Rolle als Kurator dadurch möglichst gerecht zu werden, dass ich authentisch und undogmatisch handele und auch meinen Ausstellungsbeitrag entsprechend konzipiere und umsetze. Ich möchte gar nicht versuchen, wie ein ausgebildeter Kurator zu agieren, da ich mir unbekannten Ansätzen folgen müsste. Natürlich mache ich auch Abstriche und Kompromisse, allerdings nur sofern sie den Kern meiner kuratorischen Haltung nicht berühren. Es ist außerdem eine große Erleichterung, dass mir Stefan Rahner vom Museum für Arbeit als Co-Kurator zur Seite steht und ich so mit einer sehr erfahrenen Person zusammenarbeiten kann.
Ich habe Künstler ausgesucht, die als professionelle Fotografen wie auch als Amateure mit unterschiedlichsten Hintergründen einen sehr persönlichen Bezug zum Thema „Home“ haben. Andrea Diefenbach setzt sich mit der Problematik der Arbeitsmigration in Moldawien auseinander, Jorge Taboada beschreibt mit seiner Arbeit „Alta Densidad“ die Vororte der großen Industriestädte Mexikos und Gineke de Rooij hat während vieler Jahre das ADM, die größte noch verbleibende Besetzung der Niederlande dokumentiert. Drei Wohnungslose aus Hamburg haben ihren Alltag mit der Kamera festgehalten genauso wie Joseph Maher, der seine Heimat in Syrien verlor und seine Flucht mit der Kamera dokumentierte.
RG: Und hier kreuzen sich wieder viele Verbindungen: Joseph Maher war einer der Workshop-Teilnehmenden bei unserem Projekt in Duisburg und ihr habt zusammen seine Fotos gesichtet und daraus einen Fotobuch-Dummy erstellt. Dabei ist es unvermeidlich, sich mit den persönlichen Umbrüchen des Gegenübers auseinanderzusetzen und sich auf die Bilder und Geschichten einzulassen, was ihr auch nach Projektende weiterführt habt. Jetzt wird dies in einem Beitrag zur Ausstellung eine neue Form bekommen. Wieweit seid ihr denn gekommen und wie merkst du, dass ihr auf einem richtigen und gemeinsamen Weg seid?
NB: Wichtig ist, dass es Josephs Leben ist, das wir auf seinen Bildern sehen, d. h. er ist derjenige, der auch die Geschichten, sozusagen die Innensicht der Bilder kennt. Ich habe die Außensicht und kann als Fotograf mit ihm die Bildauswahl und Abfolge treffen, denn damit hat er keine Erfahrung. Mir ist bei der Durchsicht seiner Bilder aufgefallen, wie sehr wir von vorgefertigten Seh- und Denkweisen geprägt sind: Da ist der „Flüchtling“ im Diminutiv, auf den selten in seinem Einzelschicksal geguckt wird. Es überwiegt das Bild vom „Schlauchboot mit Figuren in Rettungswesten“. Dann gibt es noch zwei Bilder aus den Medien, die ich im Kopf habe: Des verzweifelten Bewohners von Homs, der gerade sein Haus verloren hat und vom Fotografen gebeten wird, für ein Foto die Hände vors Gesicht zu schlagen. Das dritte Bild ist das vom Stacheldraht, das auch den World Press Award gewonnen hat: Menschen, die sich mit Baby auf dem Arm durch den Stacheldraht quetschen.
RG: Ja, hier kommt wieder das kollektive Erinnerungs- und Bildgedächtnis ins Spiel, das ganze Generationen prägen kann und dennoch abhängig ist von kulturellen oder historischen Interpretationen bzw. Lesarten und nicht frei von Kontextverschiebungen und Manipulationen…
NB: Und dann sehe ich mir die Fotos von Joseph an, der in seinem zerbombten Haus mit einem Lachen im Gesicht steht und posiert. So geprägt wie wir sind, könnte man denken, er sei ein Terrorist, der gerade den Straßenzug erobert hat. Da musste ich wirklich drüber nachdenken… Und die Geschichte zum Bild ist folgende: Sein Haus war schon seit Jahren zerbombt, zu unterschiedlichen Zeitpunkten waren da sowohl al-Nusra-Leute als auch Assad-Leute drin. Doch haben sie diese halb volle Flasche Whisky nie gefunden. Auf dem Foto feiert er einfach, noch am Leben zu sein. Und natürlich bist du auch aus Selbstschutz ironisch mit deiner Situation. Und der andere Moment ist: Für eine Flucht brauchst du auch Geld. Und nach einer Überfahrt, auf der du fast gestorben wärst, kommst du dann an auf einer wunderschönen Insel mit einem perfekten Strand im Sommer und da gibt es eine Strandbar: Natürlich kaufst du dir ein Bier und machst erstmal ein Selfie!
Ich habe seine Fotos gesehen und gedacht, was das doch für komische Touristen-Fotos sind, wo bleiben denn der Stacheldraht und die Tränen? Es gab so viele Momente, an denen die Flucht definitiv hätte zu Ende sein können – da feierst du doch das Leben ab. Mir stellt sich die Frage, warum wir solche Bilder nicht zu sehen bekommen – etwa aus Angst vor den Rechten?
Ich glaube, wenn wir mehr solcher Fotos sehen, die normal scheinen, wird die Schnittmenge an Verständnis und Menschlichkeit eher größer – wir haben zwar unterschiedliche Erfahrungen gesammelt im Leben, aber trotzdem haben wir viele Gemeinsamkeiten. Ich glaube nicht, dass es dem Verständnis von Flucht und Migration guttut, sich nur mit Klischeebildern auseinanderzusetzen. Die Komplexität der Realität wird nicht weniger, wenn wir Menschen als „visuell“ unmündig erklären.
Bei unserem letzten Treffen haben wir eine grobe Auswahl der circa 5.000 Fotografien gemacht und die Schlüsselbilder bestimmt. Viele seiner Handyfotos haben eine schlechte Auflösung, es ist deswegen sinnvoll und auch stimmig, sie entsprechend klein auszustellen. Die gesamte Auswahl der Bilder die wir dadurch zeigen können, wird entsprechend größer, was wiederum der Komplexität seiner Lebenssituation gerecht wird. Wir werden so eine Art Petersburger Hängung machen, welche vielleicht etwas überfrachtet und ungewöhnlich wirken wird. Ich hoffe die Ausstellung wird am Ende besonders durch die Auswahl der gezeigten Momente weniger plakativ und auch intimer wirken. Im Idealfall wird nicht nur physisch – durch das nah an die Fotos Herangehen – eine Distanz überwunden. Die Einzelfotos werden in der Hängung auf Papierbahnen gedruckt dann auf Bahnen plakatiert werden. Wir drucken gleich mehrere Exemplare, um überplakatieren zu können, wenn zu „kreativ“ mit deren Präsentation im öffentlichen Raum umgegangen wird.
RG: Ihr präsentiert ja im öffentlichen Raum, findet dafür aber eine besondere Form, die dem Titel „Zuhause“, „Home“ entspricht: eben nicht auf Plakatwänden und Litfaßsäulen, sondern in drei „Hütten“.
NB: Wir nennen sie eher „Pavillons“, die sich bautypisch auf Einfamilienhäuser beziehen: So haben zwei Satteldächer, eins nicht, weil das auf dem vorgesehenen Standort nicht passend erschien und dementsprechend eher „containerförmig“ konzipiert wurde. Ein Pavillon steht vor den Deichtorhallen, dem Festivalzentrum der Phototriennale, damit alle sehen können, dass es diese Ausstellung, die eher satellitenförmig angelegt ist, auch gibt. Ein zweiter mit Satteldach, angelehnt an ein typisches Einfamilienhaus, steht in der alten Bergstraße in Altona genau vor Ikea. Diese beiden sind ungefähr 4 x 6 m groß, angepasst an das Budget und die Vorgaben des öffentlichen Raums. Der dritte Pavillon befindet sich in der Hafencity. Im Altonaer Museum selbst werden auch studentische Arbeiten von der HAW (Hochschule für Angewandte Wissenschaften) gezeigt, die sich mit dem Thema „Behausungen“ auseinandergesetzt haben.
RG: Zum Abschluss eine nicht ganz unwichtige Frage: Woher kommt denn das Budget?
NB: Zum Teil aus der Triennale, bei der seit 2014 die Deichtorhallen GmbH der Veranstalter ist, und zum Teil von den beteiligten Museen. Für unser Projekt vom Altonaer Museum bzw. der Stiftung Historische Museen Hamburg. Für mich ist die Rolle des Kurators neu. Ich versuche, genau aus meiner Erfahrung auch Honorare für die beteiligten Fotografen und Fotografinnen auszuhandeln. Fotografen werden oft noch als „handwerkliche Dienstleister“ und nicht als „Künstler“ gesehen, bei denen das Zahlen von Ausstellungshonoraren absolut keine Selbstverständlichkeit ist. Ich glaube es wird eine sehr spannende und zumindest für mich auch emotionale Ausstellung. Ich bin gespannt, welche Reaktionen die Pavillons und die fotografischen Positionen hervorrufen, gerade weil sie im öffentlichen Raum sichtbar sind und damit hoffentlich zu einer Sichtbarmachung wichtiger gesellschaftlicher Themen beitragen.
RG: Nico, vielen Dank und viel Erfolg. Ich freue mich auf die Triennale der Photographie in meiner Heimatstadt Hamburg. Ich freue mich auf das Festival und die Resonanz auf euren Ausstellungsbeitrag.