Es war entsetzlich heiß und schwül schon auf dem Weg in die Klinik. Das Weiß des Konferenzgebäudes konkurrierte mit dem Weiß der Zelte und den weißen Wolken über dem Kalksee. Die Gewitterwolken am Horizont verhießen zwar Abkühlung, für die Zelte im Außenbereich aber nichts Gutes.
Im Innenbereich des Konferenzraumes war es ebenso heiß wie voll – schätzungsweise 300 Menschen allen Alters saßen gespannt nicht nur auf Stühlen, sondern auch auf dem Boden. Es gab die Möglichkeit, durch die weit offenen Türen in den umliegenden Park zu entweichen, was auch manche im Laufe des fast zweistündigen Programms in Anspruch nahmen. Viele blieben aber auch bis zum Ende.
Der Anlass
Anlass des fast zweistündigen Programms war die Feier der Neueröffnung des Klinikgebäudes auf dem Gelände der Psychiatrie, der leider nicht, wie ursprünglich geplant, dort vor Ort gefeiert werden konnte, von dem Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Prof. Dr. Martin Heinze aber differenziert in einer Präsentation visualisiert wurde. Für mich gut nachvollziehbar, war ich doch im Januar vor Ort, um mir den Rohbau von innen und von außen anzuschauen und viel über die geplante Neugestaltung der Psychiatrie zu hören, die mit einem Konzert der besonderen Art dort gefeiert werden sollte.
So stand heute im Zentrum meines Interesses das besagte Konzert als Abschlusspräsentation von JUST INTONATION des Berliner Künstlerduos „unknown spaces“ (Maurice de Martin und Janina Janke), die während der letzten sechs Monate hier in der Klinik Rüdersdorf, aber auch in den Außenstellen in Straußberg, Fürstenwalde und Molkenberg mit Menschen vor Ort (vor allem Patientinnen und Patienten, aber auch Betreuende und Interessierte) musikalisch gearbeitet haben.
Die Rede – Ein Auszug
Warum mich das interessiert, habe ich versucht, in einer kleinen Rede den Anwesenden wie folgt näher zu bringen:
„…Wie kommt eine Stiftung aus Bonn in eine Klinik bei Berlin? Und was machen die Künste, und hier vor allem die Musik in der Psychiatrie?
Lassen Sie mich in fünf Minuten ein Muster herstellen und die Verbindungen knüpfen:
Die Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft versucht, möglichst alle Menschen an Kunst und Kultur teilhaben zu lassen, und ist überzeugt von der Kraft und dem Potenzial, das prinzipiell in allen Menschen und allen Künsten wohnt. An den Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit können die Künste in besonderem Maße berühren, beflügeln, begleiten und leiten – aus diesem Grund entwickelt und fördert die Stiftung Formate, die diese Grenzen ausloten und immer wieder überschreiten – auch dies ist das Wesen der Künste (und auch ein Anliegen der inhaltlichen und formalen Gestaltung des Neubaus der Psychiatrie hier in Rüdersdorf – trägt er doch zur Neugestaltung und Enttabuisierung von Menschen und Orten für psychisch Erkrankte bei).
An der Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit haben wir bislang als Stiftung vorwiegend bildnerische Projekte realisiert – hier interessierte uns die Macht der Musik, bzw. die Kraft der Klänge – erzeugen sie doch einen leiblich-sinnlichen, unmittelbaren Resonanzraum, denen sich der Mensch nicht entziehen kann. Aus diesem Grund unterstützten und begleiteten wir das Projektvorhaben von Just Intonation hier in der Klinik, mit der wir einen Kooperationsvertrag geschlossen haben.
Just Intonation, das Projekt des Musikers und Komponisten Maurice de Martin und der Künstlerin Janina Janke, nutzten dies Potenzial, um mit Anwesenden in der Klinik und den Außenstellen zu arbeiten. Sind Erwachsene doch selten intrinsisch motiviert, sich auf solche Unwägbarkeiten und Neuland einzulassen, hat hier, und das hat mich sehr berührt, in den letzten sechs Monaten eine Zusammenarbeit (mit den kongenialen Musikern Hilary Jeffrey, Mariel Supka und Michael Vorfeld) stattgefunden, an denen ich selbst teilgenommen habe und mich die Magie der Klänge und ihre außersprachlichen Kommunikationsmöglichkeiten aufs tiefste überzeugt haben. Während des gesamten mehrmonatigen Prozesses gab es kein richtig und kein falsch, sondern das fortwährende, hartnäckige und professionelle Ringen um die passende Form, besser gesagt den passenden Klang und eine dementsprechende Aufführungspraxis: hier und heute zu sehen und zu hören mit dem Titel „Werk statt Eröffnung“.
Ich wünsche Ihnen jetzt ein berührendes, bereicherndes und kommunikatives Klangerlebnis – lassen Sie sich darauf ein-auf die Kraft und den Reichtum der Künste im Leben!
Und ich verneige mich vor Just Intonation, vor dem Engagement der Musikerinnen und Musiker, danke der Klinik und allen Beteiligten für die konstruktive und kollegiale Kooperation und dem Mut der Patientinnen und Patienten, die hier und heute noch auftreten werden.“
Bilder eines Konzertes
Die Beschreibung der Stücke des dann folgenden performativen Konzertes waren im ausliegenden Flyer so präzise und bildlich, dass ich sie gerne im Folgenden zitieren möchte und bildlich anreichern. Hörerlebnisse folgen in Kürze!
„Musik der Zustände – Im ersten Musiklabor, welches im Februar 2019 über vier Tage im Konferenzzentrum der Immanuel Klinik Rüdersdorf stattfand, stellten wir uns die Frage: Was ist Oper? Drei Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen zu dem Schluss, dass ihre psychische Krankheit, mit all den emotionalen Zuständen, die man dabei durchleben würde, einer Oper gleichen würde. Sie zeichneten den Verlauf dieser Emotionen als Partitur und leiteten die Musikerinnen und Musiker anschließend an, sie musikalisch umzusetzen.“
„Filethäkeldecken-Entspannungs-Symphonie – Diese Musik soll zur Entspannung und zum Wohlbefinden einladen. Eine Teilnehmerin, die gerne häkelt, legte ihre Deckchen auf Notenblätter und zeichnete anhand des Musters Punkte darauf. Die entstandenen Partituren wurden anschließend von einer Gruppe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit Tischtennisbällen einstudiert und in einem genauen choreografischen Ablauf gespielt. Das Ergebnis ist sowohl als Film wie auch als Live- Performance zu erleben.“
„Choral „Lobet den Herrn“ – Der Choral wurde bei einer Probe im Instrumentenkoffer eines Arztes der Klinik vorgefunden. Das Stück wurde für unser Ensemble arrangiert und zur repräsentativen Stimme der Mitarbeitenden der Immanuel Klinik. Es weist darauf hin, wie vielfältig die Arbeit mit abstrakten wie auch konkreten musikalischen Inhalten im Rahmen unseres Projektes war sowie auch die Ansätze wie auch Präferenzen der einzelnen Teilnehmenden sehr unterschiedlich waren.“
„Lebenszeitenweg – Das Leben ist eine Welt-Oper, jeder Mensch spielt eine Rolle. Nach diesem Prinzip wurde hier von einem Teilnehmer das eigene Leben betrachtet und ein Graph entwickelt, der die Höhen und Tiefen abbildet oder besondere Ereignissen miteinander verbindet. Die Musikerinnen und Musiker spielen diese „life song line“ nicht chronologisch – sie setzen an unterschiedlichen Punkten an, verharren, bewegen sich vorwärts, rückwärts oder springen.
„Annas Welt – Eine weitere Rolle in der Welt-Oper: Aus den parallelen Hochs und Tiefs im eigenen Leben entstanden beim Zeichnen drei große Flächen, die an Kontinente erinnern. Sie wurden von der Teilnehmerin mit Inhalten gefüllt und als musikalische Sätze bezeichnet. Die Musikerinnen und Musiker entwickelten aus den vorgegebenen Spielanweisungen der Teilnehmerin drei sehr unterschiedliche Kompositionen, die über den Verlauf der Aufführung präsentiert werden.“
„Ohne Titel – Uns wurde von einem Teilnehmer eine sehr filigran und komplex gestaltete Zeichnung auf einem DinA4 Blatt mit der Anweisung vorgelegt: „Hier, machen Sie was damit“. Diese Aufforderung hat uns dazu inspiriert ein „Trio der elektronischen Wellen“ zu formieren.“
„Dschungel : Wüste – Als ein Schwerpunkt unserer Projektarbeit hat sich früh das Thema „Gegensätze“ ergeben. Eine Teilnehmerin verwies auf das Leben als einen ständigen Wechsel zwischen Tragödie und Komödie. Eine Gruppe widmete sich diesem Thema und entwickelte eine Reihe von „Partituren der Gegensätze“ aus der wir heute die Arbeit „Dschungel : Wüste“ umsetzen.“
Resonanzen und Ausblick
Für viele Besuchende war diese ungewohnte Konzertpraxis, die ungewohnten Klänge und auch zum Teil die Lautstärke eine echte Herausforderung. Dafür waren noch sehr viele Besuchende bis zum Ende anwesend und in vielen Gesprächen hieß es doch: „ich konnte mir gar nichts darunter vorstellen, aber ich bin froh, dass ich gekommen bin“.
Für die Patientinnen und Patienten, die mit auf der Bühne waren, war, neben der kontinuierlichen Teilnahme an den Workshops, auch das öffentliche Auftreten eine echte Herausforderung, der sich fast alle stellen konnten. Übereinstimmend wurde von ihnen berichtet, dass das Beste an dem ganzen Projekt war, dass sich jede und jeder ernstgenommen fühlte, auch mit ihrer Entscheidung, daran teilzunehmen –selbstbestimmt, freiwillig, eigenverantwortlich und mit dem Gefühl, eine eigene Stimme zu bekommen, die eine andere Präsenz ermöglicht – für sich selbst und in der Gruppe.
Für die Musikerinnen und Musiker, deren Herausforderung es war, den passenden Klang und die empathische Vertonung für die Angaben der Teilnehmenden zu finden, jenseits von zeitlichen und logistischen Unwägbarkeiten und die dies, jede und jeder auf seine Art, überzeugend taten, weil sie von dem Projekt überzeugt waren.
Und dies gilt auch für Maurice de Martin und Janina Janke, denen es gelang, alle Einzelheiten und Wesenheiten dieses sehr komplexen Projektes zu bündeln, zu kondensieren und zu fassen: als Sternenschwarm eines Ganzen oder als Silberstreif am Horizont.
Ende August werden wir gemeinsam in Rheydt mit Abstand und Blick zurück nach vorne schauen – wir freuen uns drauf!